Das soziologische Genie und sein solides Handwerk (original) (raw)
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'Genie in der Kunst des Lebens'. Geschichte eines Goetheschen Gedankens
2015
"Was in jeder Kunst das Genie ist, hat sie in der Kunst des Lebens." So schreibt Goethe im März 1781 über Johanna von Werthern-Neunheiligen. Diese Verbindung von Geniebegriff und dem Konzept Lebenskunst kommt in der Geistesgeschichte vor diesem Satz Goethes nicht, und auch nach ihm nur äußerst selten vor – und das, obwohl beide Begriffe im philosophischen Diskurs der Neuzeit eine wichtige Rolle spielen und ihre Verbindung nahezuliegen scheint. Was steht ihr also entgegen? Die interdisziplinäre Studie sucht eine Antwort auf diese Frage in der Begriffsgeschichte von Genie und Lebenskunst und ihren Bezügen seit der Antike sowie in Auseinandersetzung mit Goethes Werk, besonders den Wilhelm Meister-Romanen. Sie zeichnet aber auch die Wirkungsgeschichte von Goethes singulärer Konzeption nach, die die Ästhetik hin zur Gesellschaftstheorie öffnet, von der Romantik bis in die Gegenwart, von der Philosophie bis zur Psychologie. Dabei werden zum einen vielfache Verbindungen zwischen den ansonsten weitgehend getrennten Diskursverläufen von Genie und Lebenskunst offengelegt. Zum anderen zeigt sich eine begriffliche Spannung in der Rede von ›Genie in der Kunst des Lebens‹ als möglicher Grund für ihre Vermeidung, allerdings ohne dass der Gedanke selbst aufgegeben wird. Diese konzeptionelle Spannung liegt auch schon im Geniebegriff allein: Es ist die Spannung zwischen Individualität und Pluralität, zwischen Elitarismus und Egalitarismus. Es geht also um die Frage, wie eine Gesellschaft zugleich plural und egalitär, und wie in einer egalitären Gesellschaft zugleich jeder einzigartig sein kann.
Der Mythos um das kreative Genie: Einfall und schöpferischer Drang
Musikermythen – Alltagstheorien, Legenden und Medieninszenierungen (S. 125–161). Hg. von Claudia Bullerjahn & Wolfgang Löffler. Hildesheim: Olms, 2004
Die meisten Menschen haben von Komponisten ein sehr romantisches Bild: Sie sehen in ihnen Personen, die auf unerklärliche Weise, möglicherweise durch Gottesgabe, herausragende Musikwerke hervorbringen. Sie bemerken wenig von den handwerklichen Grundlagen des Komponierens und ignorieren die Tatsache, dass auch große Komponisten Jahre mühevollen und beharrlichen Lernens absolviert haben. Bedeutende Leistungen sind jedoch weder im ästhetischen noch im wissenschaftlichen Bereich Produkte einer einmaligen genialen Intuition bzw. des unbewussten Geistes, sondern erfordern stets fundiertes Spezialwissen als notwendige Voraussetzung. Überraschenderweise findet sich allerdings dieser romantisch angehauchte Mythos über das Komponieren nicht nur im Bereich sogenannter klassischer Musik, sondern auch in der Rockmusik. Nur zu gern werden Legenden über Rockstars geglaubt, die diese über die Normalität des Alltags hinaus heben. Der Aufsatz versucht anhand von empirischen Belegen zu einer ›Entzauberung‹ des Mythos um das Komponieren und das kreative Genie beizutragen. Zu diesem Zweck werde ich zunächst die Gründe für eine Mystifizierung aufzeigen, die sowohl den Kompositionsvorgang als solchen – inklusive des kreativen Produkts – als auch die Person des Komponisten betreffen. Danach sollen Argumente präsentiert werden, die – soweit möglich – logische Erklärungen für geheimnisumwitterte Vorgänge und Verhaltensweisen liefern. Im Anschluss werden einige Beispiele aus dem rockmusikalischen und filmmusikalischen Bereich belegen, dass Mystifizierungen und Mythologisierungen keineswegs auf den klassischen Bereich beschränkt sind, andererseits gewisse Umstände dazu beitragen, dass die Wertschätzung einiger Komponisten geringer ausfällt als die anderer. Ein kurzer Ausblick auch in Hinblick auf mögliche Forschungsperspektiven beschließt den Aufsatz.
Vernünftige Engel – Intelligenzen. Naturphilosophie und praktische Vernunft
»Vernünftige Engel – Intelligenzen. Naturphilosophie und praktische Vernunft«, in: Engel in der Literatur-, Philosophie- und Kulturgeschichte. (Philosophisch-literarische Reflexionen; 6) (Hg.) Röttgers, Kurt – Schmitz-Emans, Monika. Essen 2004, S. 74-88, 2004
Naturphilosophie und praktische Vernunft Philosophen haben Probleme mit Engeln. Das liegt, könnte man sagen, in der Natur der Sache. In der Philosophie herrscht ein Impuls zu Aufklärung und Rationalität. Die christliche Mythologie dagegen, sei sie farbenprächtig oder dunkel, sei sie volksfromm oder dogmatisch, setzt der philosophischen Tendenz entschiedenen Widerstand entgegen. Der Philosoph dringt auf Klarheit und Welterklärung durch eine ganz irdische Vorstellung vom Wirken der Menschen und der Natur. Der fromme Glaube beantwortet dagegen die Frage nach dem Sinn des Lebens in einer kontingenten Welt durch das Wirken höherer Mächte, deren Handlungen sich in der Welt spiegeln. Dazu gehören die Erzählungen von Zwitterwesen, beflügelnden und beflügelten, teils körperlichen, teils unkörperlichen, gottähnlichen und gottgesandten Botschaftern. Neben und hinter dem Erfahrbaren oder durch die Vernunft Erkennbaren erahnt der fromme Mensch die Welt Gottes, sein Reich, in dem er unsichtbar wirkt durch seine Engel. Sie bieten dem Menschen Schutz, bergen ihn in die unverletzliche Hülle seiner väterlichen Güte. Gegen alle Fährnisse des Lebens, gegen die Verletzlichkeit des irdischen Körpers, gegen die Endgültigkeit des Todes sendet Gott seine Engel und läßt sie verkünden, daß am Schluß alles heil wird, daß die wirren Weltläufe enden werden in der himmlischen Harmonie der Engelchöre, die in Heerscharen von der Macht Gottes künden.
Das Mechanische im Lebendigen selbst. Zur latenten Komik des humanethologischen Verhaltensbegriffs
Wissensgeschichte des Verhaltens. Eds. Sophia Gräfe, Georg Töpfer, 2024
Die Humanethologie, die Biologie des menschlichen Verhaltens, entsteht in den 1960er Jahren zeitgleich in Deutschland und England aus der Anwendung verhaltenswissenschaftlicher Ansätze der Zoologie auf Menschen. Prominent stehen für diesen Ansatz zwei Forscher: Desmond Morris und Irenäus Eibl-Eibesfeldt. Morris, ein Schüler des niederländischen Ornithologen und Oxford-Professors Nikolaas Tinbergen, veröffentlicht 1967 mit seinem Buch The Naked Ape einen Weltbestseller, der bis heute immer wieder aufgelegt wird. Eibl-Eibesfeldt, von Haus aus ebenfalls Ornithologe und später auch Meeresbiologe, baut in den 1970er Jahren in Konrad Lorenz' Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen eine Abteilung für Humanethologie auf. In diesem institutionellen Rahmen verfolgt Eibl-Eibesfeldt bis 2007 ein kulturvergleichendes Forschungsprogramm zu Universalien des menschlichen Verhaltens, das er in den 1960er Jahren entwickelt hatte. Ausläufer der Humanethologie finden sich auch in den USA, etwa in den von Eibl-Eibesfeldt inspirierten Arbeiten zur Ethologie des Kinderspiels von Peter C. Reynolds. Humanetholog:innen interessieren sich für erworbene, aber auch für erlernte Verhaltensweisen unter dem Aspekt ihrer Phylogenese. Sie gehen von der Annahme aus, dass es sich bei diesen Handlungsabläufen um evolutionär erfolgreiche Muster handelt. Aus methodischer Sicht ist die Humanethologie auch eine Wette auf noch zu erzielende Fortschritte der Genetik, soll diese doch dereinst die von den Humanetholog:innen im Rahmen ihrer vergleichenden Phänomenologie beobachteten Ausgestaltungen menschlichen Verhaltens erklären. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt sich die Humanethologie zu einem öffentlichkeitswirksamen Forschungsansatz. Sie zieht Kritik auf sich, findet aber auch starke positiv Resonanz gerade über Fachkreise hinaus. Zum Skandalon wird die Biologie des menschlichen Verhaltens, weil sie den Menschen als Tier betrachtet und weil ihre Anthropologie in evolutionshistorischer Perspektive den Nukleus einer Soziobiologie formt, die dazu angetan ist, den Sozial-und Kulturwissenschaftler:innen die Deutungshoheit über das Soziale streitig zu machen.
Geniekünstler und KulturarbeiterInnen
'Seit ungefähr zwei Jahrzehnten prägt die ökonomische Bedeutung von Kreativität den internationalen Kunst- und Kulturdiskurs. Ziel dieses Artikels ist es, die aktuellen Entwicklungen dieses Diskurses in einen größeren historischen Zusammenhang zu stellen. Sowohl das Bild des autonomen Geniekünstlers, das dem Menschenbild der Moderne und den ökonomischen Erfordernissen des aufstrebenden Kapitalismus entsprach, als auch die zahlreichen Strömungen, die sich gegen dieses KünstlerInnenbild wandten, finden sich im zeitgenössischen Verständnis von Kunst, Kultur und Kreativität wieder. Zugleich entspricht die Ökonomisierung in diesem Bereich auch generellen neoliberalen Entwicklungen. Diese Zusammenhänge werden anhand von Hegemonietheorien theoretisch eingeordnet und ihre praktischen Auswirkungen auf die Entwicklung der 'Creative Industries' und die ihnen tätigen KulturarbeiterInnen analysiert.' (Autorenreferat) 'In the last two decades, the economic importance of creati...
Ein fast vollständiger altuigurischer Opfer-Segen
Wie kürzlich ausgeführt 1 , gehörten Segen zum festen Repertoire der uigurischen Buddhisten. Man kann in den meisten von ihnen einen Bezug auf das Wohl von Reich und Religion sehen, und das von vielen Schreibern an vielen Orten. Offensichtlich war es verbreitete Ansicht, daß Segentexte im kleinen nur dann helfen, wenn im großen Harmonie und Wohlergehen herrschten. Ein Beispiel sei hier vorgestellt. Gelingt es, in kleine Stücke zerrissene Buchrollen zusammenzusetzen, kann man einen ganz passablen Text rekonstruieren. Fünf mehr oder weniger kleine Reste einer chinesischen Buchrolle aus Yarchoto, die eine Abschrift der chinesischen Version des Dīrghāgama 2 enthält, können zu einem Ganzen zusammengefügt werden, in der Reihenfolge von links nach rechts: Ch/U 6790 (T II Y 60) + Ch/U 7308 3 + Ch/U 6906 +Ch/U 6447 4 (+) Ch/U 6450 5 . 6 Vermutlich wurde das Blatt gesondert für die Niederschrift des Segens vorbereitet. Die Rückseite trägt den hier vorzustellenden Text, geschrieben in halbkursiver Schrift, der wohl nicht Teil eines Kolophons war, sondern eher als selbständiger Segen für eine buddhistische Opferhandlung betrachtet werden kann. Große Teile sind in strophischer Alliteration abgefaßt, in der für die altuigurische Zeit üblichen Art und Weise der Dichtung.
Das Soziale im Menschen: das Menschliche im Sozialen
2008
Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Lüdtke, Nico: Das Soziale im Menschen: das Menschliche im Sozialen. In: Rehberg, Karl-Siegbert (Ed.) ; Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) (Ed.): Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2. Frankfurt am Main : Campus Verl., 2008. ISBN 978-3-593-38440-5, 2944-2957.. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-151488
Die Konstruktion der Gesellschaft aus dem Geist?
KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2000
Die Konstruktion der Gesellschaft aus dem Geist? Zusammenfassung: Philosophie und Soziologie beschreiben die Welt auf unterschiedliche Weisen, obwohl sie sich teilweise auf die gleichen Gegenstände zu beziehen scheinen. Am Beispiel von John Searle und Pierre Bourdieu werden verschiedenartige Denkweisen, die für diese beiden Disziplinen typisch sind, exploriert. In Searles Sichtweise wird die soziale Welt aus intentionalen Akten konstruiert; diese können als besondere Sprechakte logisch formalisiert dargestellt werden. Mit Hilfe "kollektiver Intentionalität" werden aus "rohen" Tatsachen gesellschaftliche Tatsachen konstruiert. Gegen die Searlesche Grundannahme einer aus geistigen Akten hervorgebrachten sozialen Wirklichkeit steht bei Bourdieu ein komplexes, in materiellen Handlungen fundiertes Zusammenspiel von Habitus und sozialer Praxis, die eine eigene Feldlogik besitzt. Insbesondere auf Grund der Vermittlungsleistung des Körpers verinnerlicht das Subjekt die Gesellschaft, die ihrerseits durch die Handlungen der Subjekte immer wieder von neuem erzeugt wird. Ebenso wie Bourdieu verwirft Searle den Gedanken, die sozialen Subjekte folgten bei ihrem regelhaften Handeln inneren Repräsentationen der Regelstruktur der sozialen Welt. Searle schlägt statt eines Regelfolgens eine neuartige Lösung vor: Das handelnde Subjekt erzeugt mit seinem "Hintergrund" Fähigkeiten und Fertigkeiten, die der Regelhaftigkeit der sozialen Welt funktional äquivalent sind. Das Konzept der funktionalen Äquivalenz lässt sich mit Gewinn auf den Habitus übertragen. Für die Beschreibung von "Hintergrund" und Habitus muss der Regelbegriff aufgegeben werden, aber für eine Kennzeichnung des normativen Aspekts sozialer Handlungen ist er nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Soziologie unverzichtbar.