Lernen als zentraler Bestandteil jüdischer Identität. Das Zeugnis der Rabbinen (original) (raw)
2017, Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext
»Einmal beobachtete ich«, schreibt ein christlicher Gelehrter, der Warschau während des Ersten Weltkrieges besuchte, »eine große Anzahl Kutscher auf einem Parkplatz, aber kein Fahrer war zu sehen. In meinem eigenen Land hätte ich gewußt, wo sie zu suchen waren. Ein kleiner jüdischer Junge zeigte mir den Weg: In einem Hof war im zweiten Obergeschoß das Schtibl der jüdischen Kutscher. Es bestand aus zwei Räumen; der eine war voller Talmudbände, der andere war ein Gebetsraum. Alle Kutscher waren mit eifrigem Studieren und religiösen Diskussionen beschäftigt … Ich fand dann heraus und wurde überzeugt, dass alle Berufe, die Bäcker, die Metzger, die Schuhmacher usw., ihr eigenes Schtibl im jüdischen Bezirk haben, und jeder freie Augenblick, den sie ihrer Arbeit entziehen können, ist dem Studium der Torah gewidmet. Und wenn sie in vertrauten Gruppen zusammenkommen, bittet einer den anderen: ›Sog mir a stikl Torah … Sag mir ein Stückchen Torah‹.« Diese kurze Beschreibung eines Berichtes gibt Abraham J. Heschel in seinem Bändchen Die Erde ist des Herrn, in dem er Die innere Welt der Juden in Osteuropa zum Leben erweckt. 2 Die darin geschilderte Liebe zum Studium der Torah gehört zu den Konstanten religiös-jüdischer Iden tität von den Anfängen an. Judentum beginnt geradezu dort, wo der Schreiber, der Sofer, auf der politischen und gesellschaftlichen Bühne als Vermittler der göttlichen Botschaft auftritt. Im biblischen Buch Esra 7,10 heißt es: »Denn Esra war von ganzem Herzen darauf aus, die Torah JHWHs zu vermitteln (lidrosch) und danach zu handeln und sie als Satzung und Recht in Israel zu lehren.« 1 Dr. Gerhard Langer ist Professor für Geschichte, Religion und Literatur des Judentums in rabbinischer Zeit (70-1000 n.Chr.) an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.