Stadt/Bild. Gustave Caillebotte, Baron Haussmann und eine Verkehrsinsel (original) (raw)
2015, Themenportal Europäische Geschichte (2015)
Bürgersteige und Straßen sind wie leergefegt. Nur drei Männer in Gehrock und mit Zylinder begleiten ihre eigenen Schatten über eine Verkehrsinsel, während zwei Kutschen durch das Bild schleichen. Auf dem Pflaster lassen sich noch die vagen Umrisse von zwei Frauen mit Sonnenschirm erahnen, die im gleißenden Mittagslicht dahinzuschmelzen scheinen. Wohl kaum ein Maler des französischen Impressionismus hat die gewaltige städtebauliche Umgestaltung und die mit ihr einhergehenden sozialen Umwälzungen, die Paris unter Napoléon III. erfuhr, so zu seinem Motiv gemacht, wie Gustave Caillebotte. Es sei nur sein ikonisches Gemälde Rue de Paris, temps de pluie (1877) genannt, in dem die modische Pariser Bourgeoisie mit ihren Regenschirmen über die Boulevards und Trottoirs promeniert. Ein kleineres Werk, das den nüchternen Titel Un Refuge, Boulevard Haussmann trägt (1880, Abb. 1) und eine nahezu menschenleere Verkehrsinsel auf der Rückseite der Opéra Garnier zeigt, ist bisher allerdings kaum in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, obgleich es als ein Sinnbild für die einschneidende urbane Umgestaltung im Second Empire gelesen werden kann, im Zuge derer Paris innerhalb von nur zwei Jahrzehnten zu einer Metropole wurde, die als Leitbild europa-, ja weltweit ausstrahlte. Anhand von Caillebottes Refuge läßt sich exemplarisch nachzeichnen, wie Architekten, Maler, Photographen und Literaten im 19. Jahrhundert die räumliche und soziale Erfahrung der modernen Großstadt ästhetisch und wahrnehmungsphysiologisch reflektierten.