Brasilien zwischen Hoffnung und Illusion, Kritische Blicke auf ein Land in der (Öko-)Krise (original) (raw)
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Konrad Adenauer Foundation Policy Briefs, 2016
Kurz vor der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele steht die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung den Spielen kritisch gegenüber und fast zwei Drittel glauben, dass die Spiele dem Land mehr Probleme als Positives bringen werden. Das verwundert kaum, wird das Land doch gerade von einer massiven wirtschaftlichen und politischen Krise erschüttert, dazu kommt die Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch das Zika-Virus. Übergangspräsident Michel Temer (PMDB) fehlt der lange Atem für dringend not-wendige politische Strukturreformen. Er verkörpert zudem nicht die politische Erneuerung, die zur Überwindung der Vertrauenskrise nötig wäre.
Reset Brasília: ein tropischer cartesianischer Traum
Beim Betreten der Ausstellung setzt der wunderschöne Film »after« von Pauline Juliern die dem Besucher gebotenen Verfahren in Szene, die ehrgeizige Ziele verfolgen, wie der Name »Reset Modernity!« anklingen lässt. Vor dem Hintergrund der Postmoderne wird die Geschichte einer wilden Teenieparty mit Folgen erzählt – keine Eltern, keine Aufsicht – der Zuschauer wird vom verklärten Anblick explodierender Feuerwerkskörper zu einem Hausbrand, nachdem alles in Schutt und Asche liegt, geführt. Die Ablösung von Traditionen – Abschied von den Eltern – kann beunruhigende Folgen haben. Dieser Gedanke drängt sich uns, als Zuschauer, auf, da diese Allegorie uns – die Modernen – unmittelbar erschüttert, da wir selbst, als einer der vielen Sprösslinge unserer eigenen kleinen Party einer Klimakatastrophe ins Auge sehen. Es mag etwas weit hergeholt sein, wenn ich sage »wir – die Modernen«, da ich aus Brasilien komme, was eine solche Aussage etwas komplizierter macht. Dies gilt sogar, wenn – wie es bei mir der Fall ist – man zu dem kleinen Teil des Landes gehört, der eher die folgenden Herkunftsmerkmale aufweist: weiß, männlich, Nachkomme europäischer Immigranten, Mittelklasse bis gehobene Mittelklasse. In Europa dauert es jedoch nicht lange, bis man feststellt, dass ich alles andere als europäisch bin. Man kann es sich natürlich selbst eingestehen. Sollte dies jedoch nicht so sein, so wird man immer wieder von Beamten der Einwanderungsbehörde weniger freundlich daran erinnert und, wenn man weniger Glück hat, von denjenigen, die sich (erneut!) vom Aufkommen des Nationalstolzes auf dem »alten Kontinent«, wenn natürlich auch nicht so stark, mitreißen lassen. Der Rundgang durch die von Latour und seinem Team in der Ausstellung »Reset Modernity« gebotenen Verfahren, die ihre minutiöse Untersuchung der Moderne selbst widerspiegeln, scheint auch eine Erinnerung an diesen Unterschied zu sein: Die Moderne ist ein westeuropäisches Projekt. Obwohl ich sie alle nachvollziehen konnte – Brasilien war schließlich eine europäische Kolonie – hatte ich unweigerlich den Eindruck, dass es um verschiedene Modernen geht. Es stimmt, dass die modernistischen Annahmen, von denen die Ausstellung sich zu lösen versucht, auch in Brasilien nur allzu präsent sind: das Streben nach Globalisierung, eine gewisse Loslösung von der Natur, die Voraussetzung einer weltlichen Politik etc. Und die jüngste Vergangenheit hat uns auch vor Augen geführt, dass nichts davon je wahr gewesen ist so wie wir vielleicht dachten. Dennoch, und hierin besteht ein großer Unterschied zu Europa, könnte man sagen, dass das Modernisierungsprojekt in Brasilien nie als bereits im Gange betrachtet wurde, sondern immer als das Versprechen einer zukünftigen Schwelle – ein Versprechen, das die Politik für mehr als ein Jahrhundert angetrieben hat und das in den meisten Fällen mit furchtbaren Folgen. »Brasil, país do futuro« (»Brasilien, Land der Zukunft«) – das nationale Motto inspiriert von Stefan Zweig – ist heute ein verklingendes Symbol unserer jüngsten Vergangenheit. Nie ganz modern, nie vollständig industrialisiert: Es scheint, als ob das Projekt der Moderne in Brasilien (wohl oder übel) nur teilweise und ungleichmäßig im Land
Brasilien, das Land ohne Eigenschaften?
Kultur und Entwicklung, 2007
Daß wir auf die Idee kommen können, Brasilien mit Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften zu vergleichen, mag erstaunen. Es geht doch um einen anderen Kontinent, um eine andere Zeit ... und vielleicht auch um ernsthaftere Probleme als diejenigen der "Parallelaktion", die für eine würdige Feier des Jubiläums des österreichischen Kaisers Sorge tragen wollte. Dennoch haben Ulrich, die Hauptfigur von Der Mann ohne Eigenschaften, und Brasilien zumindest ihre Hauptcharakterisierung gemeinsam. Ulrich zieht der reellen Wirklichkeit die mögliche Wirklichkeit vor. Er spielt alle interessante möglichen Optionen in Gedanken durch, legt sich aber nicht auf eine bestimmte Option fest, sondern läßt schließlich alles beim alten. Nach Stefan Zweigs berühmtem Ausdruck ist Brasilien "ein Land der Zukunft". Von den fünfziger bis in die siebziger Jahren wurde diese Charakterisierung als * Dieser Text wurde im Rahmen der Ringvorlesung Studium Generale "Kultur und Entwicklung in Afrika, Asien, dem Vorderen Orient und Lateinamerika" (Leiter: Prof. Andreas Boeckh und Rafael Sevilla) an Universität Tübingen am 19. Dezember vorgetragen. Wir danken Rafael Sevilla für seine hilfreichen Bemerkungen. ** Professor für Rechtstheorie und Rechtsphilosophie an der juristischen Fakultät der Bundesuniversität von Minas Gerais in Belo Horizonte-UFMG. *** Professor für Philosophie an den Universitäten von Saarbrücken und Tours.
Konrad Adenauer Foundation Policy Briefs, 2016
Brasilien stellt knapp fünf Monate vor dem Beginn der Olympischen Sommerspiele Negativrekorde auf: Mitten in einer historischen Wirtschaftskrise findet die Aufdeckung des größten Korruptionsnetzwerks der Geschichte des Landes einen neuen Höhepunkt in den Vorwürfen gegen den Ex-Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Sil-va. Währenddessen steht Präsidentin Dilma Rousseff kurz vor dem endgültigen Bruch mit ihrem wichtigsten Koalitionspartner und muss wegen eines laufenden Amtsenthebungsverfahrens um ihre Präsidentschaft bangen. Nun forderten Millionen Demonstranten ihren sofortigen Rücktritt. [German version of: Mass Protests and Political Gridlock. Brazil Amid a Corruption Scandal, Economic Crisis and the Imminent Impeachment of the Republic's President]
Konrad Adenauer Foundation Policy Briefs, 2017
Brasiliens Staatspräsident Michel Temer (PMDB) ist einer Absetzung durch das Oberste Wahlgericht knapp entkommen, doch seine Regierungskoalition droht zu bröckeln und die Staatsanwaltschaft er-mittelt gegen ihn wegen Korruption. Regierung und Parlament widmen sich weniger dem Regieren als der Schadensbegrenzung, und die Justiz politisiert sich – mit nachhaltigem Schaden für Brasiliens Demokratie. Ein Ausweg ist nicht in Sicht.
Die Ideenzirkulation zwischen Brasilien und Deutschland: Diagnose und Szenarien.
Die deutsch-brasilianischen Kulturbeziehungen. Bestandsaufnahme, Herausforderungen, Perspektiven, 2010
Die Ideenzirkulation zwischen Brasilien und Deutschland: Diagnose und Szenarien Der vorliegende Artikel entwickelt eine persönliche und qualitative Diagnose des intellektuellen Austauschs zwischen Brasilien und Deutschland im Verlauf der letzten Jahre. Um das umfangreiche Forschungsfeld einzugrenzen, bezieht sich der zur Diskussion gestellte intellektuelle Austausch auf die institutionalisierte akademische Sphäre. Sicherlich gibt es eine Menge anderer in diesen Austausch von Informationen und Interpretationen involvierter Akteure: die Kirchen, die sozialen Bewegungen, die Medien usw. Sie werden jedoch bei den folgenden Überlegungen nicht in Betracht gezogen.
Global processes of flight and migration. The explanatory power of case studies. Globale Flucht- und Migrationsprozesse. Die Erklärungskraft von Fallstudien, 2020
Was in Zukunft passiert, was im Leben aus dir wird, nun, das ist ein trauriges Terrain, ehrlich, das ist Traurigkeit. Du denkst nach, du kämpfst und schlägst dich durch, aber du bewahrst immer Hoffnung … Ich sage mir immer, dass sich eines Tages eine Gelegenheit ergeben wird und vielleicht können sich die Dinge ändern. Célestin, November 2016 Wie gelangt jemand aus dem ärmsten Land der Welt, der Zentralafrikanischen Republik, nach Französisch-Guyana, einer südamerikanischen EU-Exklave, die nach globalem Maßstab einen hohen Lebensstandard aufweist? 1 Diese Frage beschäftigte mich während meiner insgesamt sechsmonatigen Feldforschung in dem kaum bekannten französisch-brasilianischen Grenzgebiet und soll das vorliegende Kapitel 1 Obwohl Französisch-Guyana im Vergleich zur sogenannten Metropole -d.h. Frankreich ohne die sogenannten Überseegebiete -deutlich benachteiligt ist und beispielsweise eine signifikant höhere Arbeitslosigkeit aufweist (siehe z.B. Murdoch 2015: 70 ff.), ist das koloniale Überbleibsel nach globalem Maßstab wohlhabender als viele andere Staaten wie etwa die Zentralafrikanische Republik, die nach mehreren BIP-Berechnungen der Weltbank und des IWF das ärmste Land weltweit ist (Schieritz 2017).