Der Eid als Beweismittel im Prozessrecht Athens (5./4. Jh. v.Chr.); Zur proklesis eis horkon (original) (raw)

"Des Frommen Zuflucht, des Übeltäters Verderben. Der assertorische Eid im Gerichtsprozess der spätbabylonischen Zeit"

in: in: H. Barta, M. Lang, R. Rollinger (eds.), Prozessrecht und Eid: Recht und Rechtsfindung in antiken Kulturen (Philippika 86,1). Wiesbaden 2015, 119-152., 2015

The article elucidates the function of the assertory oath in the evidentiary procedure in trial documents from the Neo-Babylonian and Early Achaemenid periods. Introduction: In einer Gesellschaft, die nicht am Eingreifen göttlicher Mächte zweifelte, war der Eid eines der stärksten Instrumente zur Disziplinierung des Einzelnen. Ob als politischer Eid oder als Eid vor Gericht – beim Schwören legte der Mensch seine soziale und physische Existenz in die Waagschale des Rechts. Den Unterlegenen und Schuldigen treibt der Eid in die Enge: Unterwerfung unter die weltliche Strafe oder die Auslieferung an die strafende Gottheit. Einen Ausweg aus dem Dilemma sollte es nicht geben. Vorformulierungen der Eide vor Gericht sollten ausschließen, dass ein Schuldiger die Verschlagenheit an den Tag legte, einen nur dem Wortlaute nach wahren Eid zu schwören. Versuche, bis ins Innerste vorzudringen belegen die Verbote, Lippeneide zu schwören. Der Eid als Mittel der Wahrheitsfindung im juristischen Prozess ist bereits in den frühesten Gerichtsprotokollen bezeugt, die wir kennen. Im ersten Jahrtausend v. Chr. hatte er seine Bedeutung noch lange nicht verloren. Er kam überall dort zum Einsatz, wo andernfalls kein Richterspruch möglich war. Doch der sich entwickelnde rationale Geist wird sichtbar: Galt der Eid in altbabylonischer Zeit noch „als das wichtigste Instrument der Wahrheitsfindung, als das vollkommenste Beweismittel“, wird der Reinigungseid eines Verdächtigen nun als das schlechteste Mittel angesehen, einen Fall abzuschließen. Ich werde im Folgenden versuchen, die Regeln für die Verwendung des Eides im Beweisverfahren des spätbabylonischen Gerichtsprozesses herauszuarbeiten. Das bedeutet eine juristisch-funktionale Perspektive auf den Eid. Jenseits der Regeln des Beweisverfahrens hat jedoch auch die soziale Wirklichkeit die Rahmenbedingungen des Schwörens maßgeblich beeinflusst.

›Homerisches Recht.‹ Eid, Ehe und Verbindlichkeit im griechischen Epos, in: Recht und Literatur im Zwischenraum. Aktuelle inter- und transdisziplinäre Zugänge, hg. von Christian Hiebaum, Susanne Knaller und Doris Pichler, Bielefeld: transcript: 2015, 225-258.

Der Kyklop Polyphem wird mit einem bemerkenswerten Vergleich in die Odyssee eingeführt: Er gliche nicht »Menschen, die Speise verzehren«, sondern einer »waldigen Koppe,/Wie man sie einsam ragend erblickt in den hohen Gebirgen« (Od 9,(190)(191)(192). 1 Polyphem ist ein asozialer Einzelgänger, derart unzivilisiert, dass er einem rauen Felsen mehr als einem Menschen gleicht. Auch seine Artgenossen kennen weder Ackerbau noch Viehzucht, weder »beratende Versammlung« (agorá) noch »rechtliche Ordnung« (thémis, cf. Od 9,112); sie gelten daher Aristoteles als Beispiel für eine archaische Gesellschaft, in der sich noch keine politischen Strukturen etabliert haben. 2 Kein Wunder, dass Polyphem sich in der anschließenden Episode bedenkenlos an der Heiligkeit der Gastfreundschaft vergeht und die Gefährten des Odysseus der Reihe nach verspeist. Seine Recht und Religion verachtende Grausamkeit dient der Odyssee offenkundig dazu, einen denkbar primitiven »Naturzustand« zu entwerfen, vor dessen Hintergrund sich Odysseus' Gewandtheit umso vorteilhafter ausnimmt: Bekanntlich triumphiert Odysseus über diese raueste Form der Gesetzlosigkeit mit seiner berühmten List, die ihn als »Niemand« dem Zugriff des geblendeten Kyklopen entgehen lässt. Ganz offensichtlich geht es also in dieser Episode um den Sieg der politischen List (mêtis) über die naturhafte 1 | Alle folgenden Übersetzungen aus Odyssee (Sigle: Od) und Ilias (Sigle: Il) werden von mir verantwortet, sind aber grundsätzlich mit den deutschen Übersetzungen von Weiher 1955 und Rupé 1961 abgeglichen. Hinzu kommen wertvolle Hinweise aus Kommentaren und Sekundärliteratur, die im Einzelnen nachgewiesen werden. Im griechischen Text folge ich der Edition von Monro/Allen 1951. Alle weiteren Übersetzungen fremdsprachiger Sekundärtexte stammen von mir. 2 | Cf. Aristoteles, Politik 1225b; dazu Patterson 1998: 56. Den Begriff »politisch« verwende ich hier und im Folgenden in seiner eingeschränkten Bedeutung als adjektivische Ableitung von gr. pólis. Zur tatsächlichen Komplexität des Begriffs cf. Meier 1983. Joachim Harst 226 Gewalt (bíē) und damit auch den Triumph des (Gast-)Rechts über die offene Rechtlosigkeit. 3 Dieser irdische Gegensatz reproduziert sich auf olympischer Ebene. Wie die Odyssee bereits in ihrem ersten Gesang unterstreicht, herrscht auf dem Olymp ein Konflikt zwischen Zeus, Athena und der Mehrheit der Götter einerseits und Poseidon andererseits (Od 1,19-21). Während Poseidon Odysseus zürnt, weil dieser seinen Sohn Polyphem geblendet hat, setzt sich Athena bei Zeus für ihren Schützling ein; Poseidon scheint dabei in seinem blinden Zorn dem Gebot der Blutrache zu folgen, während Zeus, indem er Athenas Bitten Gehör schenkt, dem Prinzip einer ausgleichenden Gerechtigkeit das Wort redet; wie der Irrfahrende jedoch nach Hause findet, ist seiner und Athenas List (mêtis) überlassen, die sich gegen die wütende Gewalt (bíē) des Meergottes durchzusetzen hat. Liest man die Odyssee vor dem Hintergrund dieses strukturierenden Gegensatzes, scheint sie von der Durchsetzung einer neuen, göttlichen Gerechtigkeit gegen Willkür und Nepotismus -wie sie das göttliche Handeln noch in der Ilias prägen -zu erzählen. 4 Indem Odysseus in die Heimat zurückfindet und mit Hilfe Athenas die seine Frau belagernden Freier überwindet, findet diese zu Beginn des Epos proklamierte Gerechtigkeit ihren deutlichen Ausdruck: Auf privater Ebene wird die Ehe zwischen Odysseus und Penelope wieder eingesetzt; daraus folgt auf politischer Ebene, dass Odysseus erneut als König von Ithaka anerkannt und damit die politische Ordnung wiederhergestellt wird. Das Recht (des Odysseus) triumphiert über das Unrecht (der Freier); das Epos als Ganzes scheint also von der göttlich verbürgten Verbindlichkeit einer bestimmten rechtlichen Ordnung zu erzählen. Allerdings muss diese Feststellung durch eine wichtige, wenn vielleicht auch selbstverständliche Bemerkung eingeschränkt werden: Nicht nur bei den Kyklopen, auch in der Heimat des Odysseus existieren politische Strukturen nur in rudimentärer Form. 5 Odysseus kann bei seiner Rückkehr an keinerlei öffentliche Instanzen appellieren, ist vielmehr ganz auf sich angewiesen -wenn die Odyssee also ein gutes Ende findet, so nur, weil Odysseus sein Recht 3 | Die Rolle dieses Gegensatzes -sowohl in der Polyphem-Episode als auch im Gegensatz Athena/Poseidon -hat Cook 1995 herausgestrichen. 4 | Cf. Cook 1995: 37. Dass die Odyssee im Gegensatz zur Ilias der Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit verpflichtet ist, wurde schon früh unterstrichen und teilweise als »moralisierender« Zug abgewertet: cf. Dodds 1951: 32-35; Lloyd-Jones 1971: 28-32; Segal 1992. 5 | Die Odyssee beginnt und endet zwar mit beratenden Versammlungen (agoraí), die jedoch in beiden Fällen zu keinem Ergebnis führen: Die beteiligten Parteien gehen unverrichteter Dinge auseinander (cf. Od 2,25-259 und 24,420-466; cf. dazu knapp Seaford 1994: 1-10). »Homerisches Recht«. Eid, Ehe und Verbindlichkeit im griechischen Epos 227 in die eigene Hand nimmt. Dass er dabei von Athena unterstützt wird, gibt seinem Erfolg den Anschein göttlicher Gerechtigkeit; zugleich ist aber von Anfang an deutlich, dass diese Gerechtigkeit auf dem Standpunkt Athenas beruht, den sie mit List gegenüber Poseidon durchsetzt -auch unter Göttern ist das Recht von der Durchsetzungskraft des Einzelnen abhängig. 6 Aus diesen Bemerkungen ergibt sich, dass der Status des Rechts in der Odyssee grundsätzlich ambivalent ist: Auf der einen Seite grenzt sich Odysseus unter Berufung auf eine allgemeine »rechtliche Ordnung« (thémis) und die öffentliche Versammlung (agorá) von der rechtlosen Welt der Kyklopen ab, auf der anderen liegt Interpretation und Durchsetzung von Recht im Konfliktfall beim Einzelnen: Was »Recht« ist, wird zu einem großen Teil von Macht, Einfluss und Ansehen der Parteien bestimmt. 7 Dennoch hieße es die Komplexität der in der Odyssee beschriebenen Ordnung zu vereinfachen, wollte man sie auf ein rohes Recht des Stärkeren zurückführen -Odysseus wird in seinem Epos schließlich gerade nicht durch Verbindlichkeit durchsetzende Stärke, sondern durch wendige, ja unverbindliche Listigkeit charakterisiert. Doch wie ließe sich dann die zuguterletzt wiederhergestellte rechtliche Ordnung differenziert beschreiben? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst eine Reflexion auf das grundsätzliche Verhältnis zwischen Recht und Epos vorzunehmen. Sie soll in den folgenden Abschnitten in der Diskussion einiger maßgeblicher rechtshistorischer Ansätze am Beispiel der Ilias geleistet werden. Im zweiten Hauptteil dieses Textes wird dann eine Lektüre der Odyssee unter dem Aspekt epischer Verbindlichkeit im Vordergrund stehen; sie wird in die Frage münden, in welchem Verhältnis die formale Geschlossenheit des Epos zur Herstellung von Ordnung steht. Die Problematik der epischen Form wird ihrerseits abschließend zum Verhältnis von Epos und Recht zurückführen, wobei nun allerdings das Epos als Gegenstand von mündlicher Überlieferung und (mythischer) Gesetzgebung im Zuge der pólis-Werdung Athens im Mittelpunkt steht. 6 | Cf. Od 1,44-95: Athena nutzt die Abwesenheit Poseidons aus, um das Schicksal Odysseus' vor Zeus zur Sprache zu bringen. Zur Frage göttlicher Gerechtigkeit in der Odyssee und der mit ihr verbundenen theologischen Modelle cf. Segal 1992 und Strauss Clay 1983: 213-239. 7 | Zur sozialen Struktur der »homerischen Gesellschaft«, die (im Gegensatz zu den Königreichen der mykenischen Zeit) nicht zentralistisch-autoritär strukturiert, sondern von komplexen, stets neu auszubalancierenden Machtverhältnissen geprägt war, cf. Finley 1954a und Cantarella 1979.