Beobachtungen einer öffentlichen Religion (original) (raw)

1999, Praktische Theologie

Femsehen als kulturelles Leitmedium' Günter Thomas Das Femsehen als immer noch dominierendes Leitmedium der spätmodemen westlichen Gesellschaften ist, so die hier verfolgte These, ein eigenständiges, komplexes kulturelles Symbolsystem, das in einem Ausmaß religiöse Formen aufgenommen hat, daß es in einer religionstheoretischen Perspektive mit guten Gründen als eigentümliche und öffentliche Gestalt von Religion bezeichnet werden kann.^ In der gegenwärtigen theologischen und kirchlichen Wahrnehmung der Medien und speziell der kulturellen und technischen Institution Femsehen dominiert dagegen die Fragestellung, in welchen Formen und mit welchen Intentionen die christliche Kirche dieses Medium für sich und andere nutzen kann. Der diesem Themenheft ursprünglich beigefügte Untertitel "Öffentlichkeitsarbeit oder Publizistik" dokumentiert diese Ausrichtimg und zeigt zugleich die beiden scheinbar zur Verhandlung anstehenden Alternativen in der Beantwortung der Frage an. Beide Ansätze teilen aber immer noch zwei Voraussetzungen: 1) Das Medium Femsehen ist ein Instmment bzw. Mittel der Kommunikation'. 2) Die Kirche begegnet in diesem Medium einem anderen ihrer selbst, d. h. "der Öffentlichkeit", "der Wirklichkeit" oder-wie man vor einigen Jahren noch sagen konnte-der "säkularen Welt"•*. ' Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um eine erweiterte und um Anmerkungen ergänzte Präsentation für das Forum "Transcendence goes virtual", der Sektion Religionssoziologie auf dem 29. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (13.9.1998). ' Obgleich neue Medien wie das Internet ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit rücken, ist die Dominanz des Leitmediums Femsehen ungebrochen. Nach einer kurzen Phase sinkender Femsehnutzung steigt sie seit der Einführung des Privatfemsehens wieder kontinuierlich an. Die durchschnittliche Einschaltdauer stieg von 1993 bis 1996 von 286 auf 312 Minuten, die Sehdauer der Erwachsenen von durchschnittlich 176 auf 195 Minuten am Tag. Siehe: Arbeitsgemeinschaft der ARD-Werbegesellschaften (Hg.), Media Perspektiven Basisdaten, Frankfurt 1997, S. 86. ' "Publizistik" und "Öffentlichkeitsarbeit" unterscheiden sich im Grunde darin, daß letztere meint, als außermediale Institution das Medium nutzen zu können, während die Publizistik von einer stärkeren Freiheit des Mediums, soziologisch gesprochen, von einer autopoietischen Selbstreproduktion und-steuemng des Mediensystems, ausgeht. * Zum Zusammenhang von Öffentlichkeit und Welt vgl. schon E. Lorey, Mechanismen religiöser Kommunikation. Kirche im Prozess der Massenkommunikation, München 1970, S. 45: "Es läßt sich beobachten, daß im kirchlichen Sprachgebrauch Öffentlichkeit in der Regel synonym gesetzt wird mit ,Welt'". Die Massenmedien werden so zum Ort der Säkularität und zugleich zum Mittel, die säkulare Welt zu erreichen. Der kirchliche Einsatz im säkularen Medium kann konsequenterweise auch inkamationstheologisch stilisiert werden als "eine legitime Fortsetzung dessen, was bei den ersten Zeugen begonnen hat und ... eine sich aus dem Wesen des Evangeliums ergebende Notwendigkeit [ist]: Gottes Menschwerdung