Mechthild von der Pfalz und die Bücher. Materialität, Geschlecht, Wissen und Macht als Konstruktionsparameter einer Fürstin im Ehrenbrief des Jacob Püterich von Reichertshausen (1462) (original) (raw)
Die Frage nach dem Geschlecht spielt in der mittelalterlichen Literatur in vielfältiger Weise eine Rolle und ist mit inner- und intertextuellen Dynamiken sowie mit der Materialität der Bücher verbunden. Die Regulierung von Wissensinhalten und -zugängen und die damit verbundenen Restriktionen bei der Weitergabe und Aneignung von Wissen stellen einen zentralen gesellschaftlichen Differenzierungsmechanismus dar, der in engem Zusammenhang mit Geschlechterordnungen zu sehen ist. In diesem Beitrag geht es um die Verflechtung der Kategorien der Differenz und der Wissensformierung. Nach der Literaturwissenschaftlerin Susanne Schul wird Gender als eine Kategorie verstanden, die spezifische Wissensdispositionen spezifiziert und kulturgeschichtlich geprägtes Gender-Wissen diskursiv produziert. Geschlechterwissen wird in diesem Ansatz dahingehend interpretiert und analysiert, dass die Zuschreibung von Praktiken, Eigenschaften und Positionen an eine Geschlechtergruppe auch geschlechtsspezifische Verhaltensmöglichkeiten und Machtressourcen einschränkt. Damit verbunden sind fiktionale Narrationen als Teil einer diskursiven Wissensvermittlung und -gestaltung sowie als Träger spezifischer Wissenssysteme, die unterschiedliche Entwürfe von Gender-Wissen präsentieren und statusgeprägte Wertesysteme verarbeiten. Dieser Ansatz eröffnet die Möglichkeit, ungewöhnliche Wissenskombinationen zu schaffen, soziale Gren-zen zu überschreiten und unterschiedliche Wissenskonzepte zu erproben. Susanne Schul fragt in diesem Zusammenhang, welche narrativen Konzepte von Wissen und Nicht-Wissen in intra- und intergeschlechtlichen Geschlechterbeziehungen präsentiert, welche hierarchischen Mechanismen vermittelt werden und welche Möglichkeiten eines normabweichenden Wissensaustausches fiktionale Texte entwerfen können. Der Beitrag wendet die Überlegungen von Susanne Schul auf das Fallbeispiel der Mechthild von der Pfalz (1419-1482) an. Die Fürstin wird innerhalb des ihr gewidmeten literarischen Texts Ehrenbrief von Jacob Püterich von Reichertshausen als prominente Büchersammlerin inszeniert. Anhand der von Schul entwickelten Methode zur Extraktion von Gender-Wissen aus fiktionaler mittelalterlicher Literatur wird Mechthild von der Pfalz innerhalb des Ehren-briefs als literarische Figur in den Blick genommen. Zweitens wird auf (weiblichen) Buchbe-sitz der Fokus gelegt, um den umfassenden Blick auf die Wechselbeziehung von Geschlecht, Materialität und Bildung zu berücksichtigen. Die begrenzte Verfügbarkeit von Büchern vor dem Zeitalter des Buchdrucks macht den Buchbesitz exklusiver und zu einer einzigartigen Quelle der Bildung in Bezug auf die Wissensgebiete, die die Bücher repräsentieren. Das Interesse gilt auch den Praktiken des Lesens und der Nutzung von Büchern. Besonderes Augenmerk wird auf die Frage gelegt, wie die Fürstin Mechthild von der Pfalz als Bücher-sammlerin durch Jacob Püterich von Reichertshausen über die Konstruktionsparameter Materialität, Geschlecht, Wissen und Macht inszeniert wird. Das in literarischen Texten – so wie im Ehrenbrief – vermittelte geschlechtsspezifische Wissen und Nicht-Wissen transpor-tiert Normen, Werte und Kategorien in spezifischen kulturellen und historischen Kontexten. Der Beitrag will daher zeigen, dass das in fiktionalen mittelalterlichen Texten präsentierte Geschlechterwissen sowohl als Produkt als auch zur Weitergabe sozialer Strukturen, die Geschlechterverhältnisse konstruieren, gesehen werden kann.