Einleitung - Critical Temperature Studies (original) (raw)
2024, Critical Temperature Studies - Konturen eines Forschungsprogrammes
1,5 Grad Celsius. Dieser auf den ersten Blick unscheinbare Wert ist heute zu einem Krisensymbol geworden, aber auch zu einer politisch umkämpften Größe und einer rechtlich verbrieften Norm. Als Ziel der Weltgemeinschaft, den anthropogenen globalen Temperaturanstieg auf dieses Maß zu begrenzen, führt die Formel »1,5 Grad« eindrucksvoll vor Augen, wie sehr ökologische und soziale Gefüge von thermischen Faktoren abhängig sind. Im Jahr 2023, dem wärmsten Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, wurde diese Schwelle erstmals überschritten. Die spürbaren Auswirkungen der Klimakrise zeigen sich mehr denn je in der Zunahme thermischer Extreme wie intensiveren und länger andauernden Hitzewellen und schmelzenden Polkappen. Die Lebensbedingungen auf der Erde werden damit zu einer Frage der (richtigen) Temperatur. Indem Temperatur in den Mittelpunkt der Debatte rückt, offenbart die Klimakrise aber auch eine Leerstelle der sozialwissenschaftlichen Forschung, die sich lange vor allem auf metaphorischer Ebene mit Temperaturphänomenen auseinandergesetzt hat. Seit Ferdinand Tönnies' Unterscheidung von »warmer« Gemeinschaft und »kalter« Gesellschaft (Tönnies 1979: 34) bedienen sich die Sozialwissenschaften gerne polarer thermischer Metaphern, um gesellschaftliche Prozesse und Strukturen zu erfassen. In der Soziologie war vor allem das Narrativ von der kalten Moderne einflussreich, das bei zahlreichen »Klassikern« des Fachs, wie etwa Max Weber mit seiner Diagnose der »kalten Skeletthände rationaler Ordnungen« (Weber 1988: 561), eine kulturkritische Prägung annahm. Andere Vertreter:innen der Disziplin, allen voran Helmuth Plessner (2002), nutzten dieses Motiv zu einem Lob der Kälte gegen den überhitzten Gemeinschaftskult der Weimarer Republik (Lethen 1994). In der Anthropologie war Claude Lévi-Strauss' Unterscheidung zwischen »heißen« und »kalten« Gesellschaften beziehungsweise Kulturen wegweisend (Lévi-Strauss 1968). Während erstere auf Institutionen beruhen, die sozialen Wandel fördern und beschleunigen sollen, sind letztere darauf angelegt, Veränderungen zu verhindern und Stillstand zu begünstigen. Lévi-Strauss' Metapher war auch wichtig für die Medienwissenschaft und inspi