3. Verschiebung der Grenze zwischen >Poesie< und Prosa in der Münchner Moderne (original) (raw)

2021, Das deutschsprachige Prosagedicht

Die mit der vergleichsweise raschen Durchsetzung des deutschen Naturalismus in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts einhergehende Privilegierung mimetischer Literaturkonzepte begann in dem Maße problematisch zu werden, in dem der Stellenwert der Kunst in der Moderne insgesamt als gefährdet empfunden wurde. Angesichts der zunehmenden medialen Konkurrenz durch bild-und tonspeichernde Medien (Photo-und Phonographie) drohte der Literatur der Verlust ihrer bisherigen Funktion 1-eine Gefahr, die es als wenig sinnvoll erscheinen ließ, das künsderische Leitziel weiterhin vorrangig darin zu suchen, Realität einfach abzubilden und sie damit auf ästhetischem Wege zu verdoppeln. Diese Legitimationskrise des mimetischen Prinzips führte zu einer verstärkten Empfänglichkeit für selbstbezügliche Formen literarischen Ausdrucks, die zu dieser Zeit allerdings nur außerhalb des deutschen Sprachraums zu finden waren. Als konsequenteste Befürworter des ästhetizistisch-autoreflexiven Kommunikationstyps können dabei die parnassischen und symbolistischen Vertreter der französischen l'art pour l'art-Bewegung gelten. Deren lange wenig interessant wirkende-da in Deutschland allzu vertraute-»markante Pointierung autonomieästhetischen Denkens« 2 entwickelte mit einem Mal ungeahnte Faszinationskraft, schien sich so doch ein gangbarer Weg zu eröffnen, wie vor dem Hintergrund rapide schwindender sozialer Verbindlichkeit von Kunst deren Status auf eingeschränktem, aber dennoch festem, weil unangefochtenem Terrain längerfristig zu sichern sei. Im Zuge der einsetzenden Symbolismus-Rezeption, die sich parallel mit der nicht minder wichtigen, lebhaften Aufnahme der Philosophie Nietzsches ereignete, kam es zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts ideologisch wie ästhetisch zu einem folgenschweren Paradigmenwechsel, der die bewußtseins-und literaturgeschichtlichen Rahmenbedingungen der deutschen Literatur grundlegend veränderte. So prophezeite etwa Bleibtreu schon 1886: »Die Neue Poesie wird [...] darin bestehen, Realismus und Romantik derartig zu verschmelzen, dass die naturalistische Wahrheit der trokkenen und ausdruckslosen Photographie sich mit der künstlerischen Lebendigkeit idealer Composition verbindet.« Carl Bleibtreu: Revolution der Literatur, S. 31. Vgl. Annette Simonis: Literarischer Asthetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, S. 19. 157 Formen bombastischer Repräsentationskunst ereignete. 8 Dies gelang vor allem durch die starke Orientierung am Vorbild Nietzsche, 9 der nicht nur als wirkmächtiger Philosoph, sondern zugleich auch als literarischer Formeninnovator angesehen wurde. Die Bezugnahme auf aktuelle französische Muster blieb demgegenüber vergleichsweise schwach und erfolgte zudem vorrangig auch nur über die Vermittlung österreichischer Autoren. Auf diese Weise kam es zu merkwürdigen ästhetisch-ideologischen Inkongruenzen, so beispielsweise wenn sich der im Gefolge der Nietzsche-Verehrung neuerwachte Kult der genialischen Künstlerpersönlichkeit im Umkreis der im Dezember 1890 von Otto Julius Bierbaum zusammen mit Julius Schaumberger, Hanns von Gumppenberg und Georg Schaumberg gegründeten Gesellschaft für modernes Leben<-erster Vorsitzender dieses weiteren institutionellen Kristallisationskerns war wiederum Michael Georg Conrad; Anna Croissant-Rust gehörte der Vereinigung als einzige Frau an-mit Konzepten einer sozialen Gebrauchskunst 10 amalgamierte. Gerade deshalb aber erweist sich die Münchner Moderne nicht nur als wichtige Relaisstation im Ubergang von der Diskursformation g Hinweise zur soziokulturellen Differenzierung der drei wichtigsten Großstädte im deutschsprachigen Raum finden sich bei Jens Malte Fischer: Die Großstädte und die Künstler um die Jahrhundertwende.