Die Wittenberger Letternfunde von der Bürgermeisterstraße 5: Eine typographische und materialkundliche Betrachtung (original) (raw)
Von Juli bis Oktober 1997 fand im Auftrag des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt die Ausgrabung eines ca. 200 m² großen Geländes an der Bürgermeisterstraße 5 in Wittenberg statt. Besonders die dabei gefundenen Bleilettern (Typen) weckten das wissenschaftliche Interesse, da solche Zeugen des Buchdrucks zu den selteneren Bodenfunden gehören. Über 500 Drucktypen wurden innerhalb einer Latrine entdeckt, die anhand der Beifunde in das 16. Jahrhundert datiert. Damit war zumindest die begründete Hoffnung gegeben, einen Zusammenhang der Lettern mit der von Wittenberg ausgehenden Reformation herstellen zu können. Neben der Datierung der Bleilettern anhand der Beifunde kann eine zeitliche Einordnung auch anhand typographischer Aspekte, etwa der Schriftart, besonders aber der Schriftausführung erfolgen. Unter den insgesamt 465 bestimmbaren Lettern fanden sich mit Antiqua, Fraktur und Schwabacher drei verschiedene Schriften. Bei erstgenannter gibt es neben den Lettern einer geradstehenden auch solche für eine kursive Form sowie eine Variante mit Kapitälchen. Dem Umfang im Letternkomplex nach zu urteilen dürfte die kursive Variante die Hauptschrift der Druckerei gewesen sein, deren typographische Merkmale sowie die an den anderen Schriften die Datierung der Bleilettern in das 16. bzw. frühe 17. Jh. stützen. Eine weitere Datierungsmöglichkeit des Fundkomplexes bietet die sog. Graphemik. Hierbei handelt es sich um einen Bereich der Altgermanistik, in der man das Schriftsystem untersucht. Eine Datierung der Lettern allein aus dem Blickwinkel der Graphemik vorzunehmen, wäre sehr vage, da nur einzelne Buchstaben und Satzzeichen vorliegen. Erst gemeinsam mit der archäologischen und typographischen Betrachtung ergibt sich eine relativ sichere zeitliche Einordnung der Lettern. So sind beim Übergang vom Frühneuhochdeutschen (1350 – 1650) zum Neuhochdeutschen (ab 1650) graphemische Entwicklungen zu beobachten, welche beispielsweise die Großschreibung oder die Interpunktion und Kürzelzeichen betreffen. Auch Satz- und Sonderzeichen wie die Virgel (/), das Komma (,), das Fragezeichen oder die et-Ligatur (&), von denen mehrere als Lettern im Komplex erhalten blieben, können zur Datierung herangezogen werden. Das Fragezeichen ist z. B. zwar von Beginn des Frühneuhochdeutschen an bekannt, findet jedoch erst seit dem 16. Jahrhundert häufigere Verwendung. Damit und mit weiteren Aspekten wird ebenfalls eine Zeitstellung der Lettern in das 16./17. Jh. nahegelegt. Ergänzend zur typografischen und graphemischen Betrachtung wurden die Lettern materialkundlich untersucht. Dazu konnten an 16 Typen Metallanalysen durchgeführt werden, die durchweg quartäre Legierungen aus Blei, Antimon, Zinn und Bismut erbrachten. Möglicherweise wurde dem Metall sogar noch Kupfer zugesetzt. Besonders hervorzuheben ist die Anwesenheit von Bismut, das zum ersten Mal an Lettern nachgewiesen werden konnte. Zuvor war seine Verwendung nicht durch Realien (z. B. Lettern aus Mainz) belegt, sondern nur aus zeitgenössischen Schriften wie Agricolas De natura fossilium bekannt. Vermutlich besteht hier ein Zusammenhang mit den nahegelegenen Bismutgruben im Erzgebirge und es scheint möglich, dass die Erfindung des Letternmetalls mit Bismut von Wittenberg ausgeht. Die Legierungszusammensetzungen sind unterdessen recht uneinheitlich, dennoch lässt sich die Verwendung bevorzugter Mischungsverhältnisse nachvollziehen, die sich z. T. auch an anderen, unweit auf dem Arsenalplatz in Wittenberg gefunden Bleilettern wiederfinden lassen. Höchstwahrscheinlich lässt sich in den Legierungen eine Herstellung der Typen durch unterschiedliche Schriftgießer fassen, wobei offen bleiben muss, ob dies in einer oder in mehreren Gießereien erfolgte. Da die Typen stark schwankende Signaturhöhen aufweisen, könnte durchaus ein Hinweis auf unterschiedliche Schriftgießereien gegeben sein, zumal die Signaturen ansonsten deutlich einheitlicher wären. Möglicherweise äußert sich hierin aber auch ein chronologisches Kriterium, wonach die Lettern unterschiedlicher Zeitstellung sein könnten. Zum jetzigen Zeitpunkt bleiben die Aussagen jedoch noch beschränkt, da die Untersuchungen (auch an anderen Lettern) andauern.