Zwei Wege der Versöhnung mit der Welt. Charles Taylor und Hannah Arendt (original) (raw)

2014, Ulf Bohmann (Hg.): Wie wollen wir leben? Das politische Denken und Staatsverständnis von Charles Taylor

Zwei Wege der Versöhnung mit der Welt. Charles Taylor und Hannah Arendt Es ist beinahe verwunderlich, dass Charles Taylor und Hannah Arendt nicht häufiger im selben Atemzug genannt werden. 1 Beide beschäftigen sich intensiv mit der Genese der Moderne und der ihr inhärenten Probleme, beide arbeiten wesentlich historisch und interpretierend -sie fragen sich, wie die soziale und politische Welt, in der wir heute leben, entstanden ist, wie die Entstehung und Beschaffenheit ihrer normativen Ausstattung verstanden und kritisiert werden kann. Für beide erfüllt das Erzählen eine zentrale Rolle in der gesellschaftlichen Erzeugung von Wirklichkeit -und als eigene Arbeitsweise. Beide scheinen dabei Vertreter einer Theoriegattung zu sein, die man mit Michael Walzer als den "Pfad der Interpretation" 2 bezeichnen kann: Sie konstruieren keinen idealen Maßstab zur Bewertung gesellschaftlichen Handelns, sondern versuchen die vorhandenen Ideen, Werte oder Mentalitäten zu verstehen und zu interpretieren. Diese Gemeinsamkeit beschreibt James Tully sehr treffend, wenn er Taylor und Arendt -neben einer ganzen Reihe anderer Theoretiker -zu Angehörigen einer "eklektischen" Theoriefamilie macht, die sich durch eine praktische, kritische und historische Vorgehensweise auszeichne. 3 Sucht man im Werk Charles Taylors nach sichtbaren Einflüssen Hannah Arendts oder konkreten Bezugnahmen auf ihr Werk, sind die Funde zwar rar, aber auch aussagekräftig. An einer für sein eigenes Politikverständnis zentralen Stelle beruft sich Taylor ausdrücklich auf Arendt und die von ihr und Tocqueville geprägte republikanische Demokratietheorie 4 . Das ist insofern bemerkenswert, da Arendt gemeinhin nicht als Statthalterin einer bestimmten Denktradition, sondern als isolierte 1 Ausnahmen sind etwa: Flügel-Martinsen 2008 und Redhead 2002. Beide vergleichen Arendt und Taylor direkt und punktuell miteinander, Flügel-Martinsen im Hinblick auf den gemeinsamen Bezug auf Aristoteles, Redhead hinsichtlich der Haltung zur Geschichte. 2 Walzer 1990, vgl. dazu auch Flügel-Martinsen 2008, S. 70. 3 Tully 2009, S. 20. 4 Im Hinblick auf Arendt ist dieser Ausdruck etwas ungenau, unterscheidet sie doch, vor allem im Revolutionsbuch, recht scharf zwischen einer republikanischen und einer demokratischen Regierungsform (vgl. Arendt 1974, S. 212f.). Dass Taylor dieser Unterscheidung nicht folgt, deutet bereits auf eine geringe, aber interessante Differenz in den beiden Denkhaltungen hin, auf die ich im Folgenden ausführlich eingehen werde.