Rezension zu: Diamond, Cora, Menschen, Tiere und Begriffe. Aufsätze zur Moralphilosophie. Berlin 2012, 335 S. In: Interdisziplinäre Anthropologie. Jahrbuch 2/2014: Gewalt und Aggression, 201-207 - PrePrint (original) (raw)

Unter dem Titel "Menschen, Tiere und Begriffe" sind im Suhrkamp-Verlag acht Abhandlungen der US-amerikanischen Philosophin Cora Diamond erschienen. Die Texte stammen aus der Zeit zwischen 1978 und 2003 und werden, in der Übersetzung von Joachim Schulte, in dem Band erstmals auf deutsch veröffentlicht. Die Autorin hat ihnen ein eigens verfasstes Vorwort vorangestellt. Abgeschlossen wird der Band mit einem instruktiven Nachwort der Herausgeber, Christoph Ammann und Andreas Hunziker. Cora Diamond ist in erster Linie als Wittgenstein-Herausgeberin und -Forscherin bekannt. Ihre wichtigste Veröffentlichung ist The Realistic Spirit. Wittgenstein, Philosophy, and the Mind, eine Sammlung ihrer Arbeiten zu Wittgenstein, Frege und zur Ethik aus dem Jahr 1991. 1 Zwei Aufsätze der Sammlung sind auch in den vorliegenden Band aufgenommen worden. 2 Sein Untertitel "Aufsätze zur Moralphilosophie" benennt die thematische Klammer. Diamond möchte ihre Texte jedoch nicht als Beiträge zu einer philosophischen Disziplin verstanden wissen, deren Profil mehr oder weniger feststünde. Ihr Anliegen besteht vielmehr darin, sich kritisch damit auseinanderzusetzen, wie Gegenstand, Struktur und Grenze der Moralphilosophie in der analytischen Tradition bestimmt sind. Sie knüpft dabei vor allem an Iris Murdoch an. In ihrem Aufsatz "‚Wir sind ständig Moralisten'. Iris Murdoch, Tatsachen und Werte" hebt sie drei Aspekte von Murdochs Denken hervor, die für die heutige Moralphilosophie noch immer lehrreich sein können (222-6): Moralphilosophie ist erstens nicht einfach ein philosophischer Themenbereich neben anderen. Zweitens arbeitet die heutige Moralphilosophie mit einem verengten Modell moralischen Denkens, in dem nicht zuletzt eine bestimmte mora-1 Diamond, Cora, The Realistic Spirit. Wittgenstein, Philosophy, and the Mind, Cambridge/Mass. 1991. 2 Es handelt sich um "Anything but Argument?" (1982) und "Eating Meat and Eating People" (1978). In "Die Bedeutung des Menschseins" argumentiert Diamond für die These der Wichtigkeit des Begriffs des Menschen in der Ethik (107). Gemessen an der konventionellen analytischen Moralphilosophie handelt es sich um eine ungewöhnliche These. Wenn sie aussagekräftig sein soll, darf "Mensch" hier nicht einfach ein Platzhalter für "Person" sein, denn zum einen droht sonst, die begriffliche Differenz zu den Marsbewohnern verloren zu gehen, und zum anderen ist die Auffassung, dass der Personbegriff eine große Bedeutung für die Ethik hat, weitgehend selbstverständlich. Soll die These zudem auch einsichtig sein, dann erfordert sie einen Begriff des Menschen, der nicht biologischer Art ist, weil es biologischen Begriffen als solchen an ethischer Relevanz fehlt. Diamond zielt auf eine dritte Alternative und versucht, einen imaginativen Begriff des Menschen zu gewinnen. Sie meint, "daß die ethische Bedeutung des Begriffs Mensch nur zusammen mit seiner Bedeutung für die Vorstellungskraft [imagination] erkannt werden kann" (111). Ein Mensch, in dem Sinn, der Diamond vor Augen steht, "ist jemand, der, ebenso wie ich, ein menschliches Leben zu führen hat, jemand dessen Schicksal ein menschliches Schicksal ist, ebenso wie das meine" (143). Der Sinn dafür bzw. die imaginative Ausgestaltung dessen, was das bedeutet, kann in literarischen Texten exemplifiziert sein. Ein wichtiger Autor für Diamond in diesem Zusammenhang ist Charles Dickens (68-70, 117-119,128-131), ein anderer Joseph Conrad (12-14, 129). Beide regen unsere Einbildungskraft und unser moralisches Empfinden an. Sie bringen zum Ausdruck, dass es "Platz gibt für die Zusammenhänge zwischen menschlicher Solidarität und dem Sinn für das, was es heißt, ein Mensch zu sein" (130). Während sich das bei Dickens etwa in einer besonderen Aufmerksamkeit für den Blickwinkel des Kindes und dessen Erfahrungen oder in einem lebendigen Gefühl dafür zeigt, "daß die anderen ‚Mitreisende auf dem Weg zum Grab'" sind statt "‚Geschöpfe anderer Art und mit anderem Reiseziel'", 3 formuliert Conrad sein Ziel als Schriftsteller ganz direkt: Er möchte durch die Darstellung eines bestimmten Augenblicks in all seiner Fülle und Leidenschaft "im Herzen des Lesers […] ‚jenes Gefühl der unumgänglichen Solidarität weckender Solidarität im geheimnisvollen Ursprung, in Mühsal, Freude, Hoffnung und ungewissem Schicksal, das die Menschen aneinander und die ganze Menschheit an die sichtbare Welt bindet'" (129). 4 Mit ihrer imaginativen Konzeption des Menschen grenzt sich Diamond von merkmalsbasierten Konzeptionen moralischer Verpflichtung ab. Das heißt, aus ihrer Sicht besteht keine Notwendigkeit, einen Grund für die moralische Verpflichtung anderen gegenüber zu finden, 3 69 u. 128. Die von Diamond hier zitierte Passage stammt aus Dickens' A Christmas Carol in Prose. 4 Diamond zitiert hier aus dem Vorwort von Conrads The Nigger of the Narcissus. 4 der darin bestünde, dass wir mit diesen eine oder mehrere Eigenschaften teilen (137). Auch, dass andere ein menschliches Leben zu führen haben bzw. Träger eines menschlichen Schicksals sind, ist ihres Erachtens kein solcher Grund (147). Doch gibt sie nicht selbst einen solchen Grund an, wenn sie auf die Nachfrage von John Marshall, inwiefern eine geistig schwerbehinderte Person ein menschliches Leben zu führen habe, antwortet, dies sei so zu verstehen, dass das Leben dieser Person "bestimmter spezifisch menschlicher Fähigkeiten (wie zum Beispiel der Vernunft) beraubt" sei, ihr Leben also "ein menschliches Leben ohne Ausübung dieser Fähigkeiten" ist und "dieses schreckliche Defizit" aufweist? (143 Anm. 48). Damit wird doch begründet, dass die geistig schwerbehinderte Person und wir eine Eigenschaft teilen, die kein Schimpanse haben kann: Sie und wir haben ein menschliches Schicksalwobei der Umstand, dass ihr menschliches Schicksal besonders schrecklich sei, darüber hinaus rechtfertigt, dass wir ihr moralische Anteilnahme schulden. Dies jedenfalls ist die Lesart von David McNaughton, der sich in dem Band, der die Erstveröffentlichung von "Die Bedeutung des Menschseins" enthält, kritisch mit Diamonds Position auseinandersetzt. 5 Diamond gibt darauf eine interessante Replik. Als sie von der Person, die zeitweise oder ihr Leben lang spezifisch menschlicher Fähigkeiten beraubt ist, schrieb, dass das eine menschliche Leben, das ihr geschenkt ist, dieses Defizit (deprivation) aufweise und dass es dies sei, was es in ihrem Fall ausmacht, ein menschliches Leben zu führen zu haben, geschah dies, so Diamond, vor dem Hintergrund des Conrad-Zitats über das Gefühl der unumgänglichen Solidarität im geheimnisvollen Ursprung, in ungewissem Schicksal, das die Menschen aneinander bindet, das heißt im Horizont des Conradschen Sinns von Solidarität: "I spoke from within that sense, hoping that Marshall would find that the words resonated in him". 6 Doch ist es dies, was einer moralphilosophischen Konzeption bleibt, die den Grundlagen der konventionellen analytischen Moralphilosophie misstraut: Hoffnung auf die Resonanz ihrer auf literarische Texte gestützten Beschreibungen? Diamond stellt die Frage im Titel eines ihrer Aufsätze andersherum: "Ausschließlich Argumente?" Ausgangspunkt ist hier eine Bemerkung Onora O'Neills, wonach ein moralischer Appell, wenn er "auch jene überzeugen soll, deren Herz nicht sowieso schon dahin tendiert, […] über Beteuerungen hinausgehen und Argumente anführen" muss (57). Ein Punkt, den Diamond dagegen geltend macht, ist, dass das moralische Denken, wenn es an den relativ engen Argumentbegriff O'Neills gekoppelt wird, in einer Weise gefasst wird, die es unmöglich macht, die moralische Kraft vieler For-