Die audio-visuelle Komposition von Raum. Berlin. Die Sinfonie der Großstadt und neue Urbanität; in Bredella, Nathalie; Dähne Chris (Hg.): Infrastrukturen des Urbanen. Soundscapes, Landscapes, Netscapes, Bielefeld: Transcript 2013, S. 21-45. (original) (raw)

Die Sinfonie der Großstadt und neue Urbanität CHRIS DÄHNE Voller Erleuchtung tritt Carl Mayer nach Sichtung Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin auf die Straße und äußert seine Begeisterung für die bewegte Lebenswelt. Mitten im Verkehrsgewühl vor dem UFA-Palast am Zoo in Berlin stehend, ersinnt er die Idee eines Drehbuchs. Diese setzt der Regisseur Walter Ruttmann um, indem er aus den urbanen Bewegungen Die Sinfonie der Großstadt Berlins (1927) montiert. Prägnant sind Dynamik und Rhythmus, die im Film nach musikalischen Kompositionsprinzipien aufeinanderfolgen. Es ist die Musik, die auch den Architekten Erich Mendelsohn zum Fassadenentwurf des Verlagshauses des Berliner Tageblatts (1921-23) inspiriert. Unter ihrem akustischen Eindruck fertigt er die entscheidende Skizze an, überträgt Klänge (Hören) in eine Zeichnung (Sehen) und letztendlich in ein neuzeitliches Bauwerk. Es befindet sich am Eckpunkt zweier Straßen der Berliner-Mitte und soll ein lebendiges Bewegungselement des urbanen Raumes sein. An der Infrastruktur, den Bewegungen auf den Verkehrsnetzen sowie deren Wahrnehmung, erkennen die Film-und Baukunst eine veränderte Urbanität. Mit der Stadtsinfonie und einer Architektur des Neuen Bauens reagieren sie auf Tempo und Bewegung der beschleunigten Zeit, mit denen Raum sinnlich wahrgenommen und schöpferisch generiert wird. Ausgehend vom Erleben des urbanen Raums, das nahezu filmische Eindrücke produ-DIE AUDIO-VISUELLE KOMPOSITION DES BEWEGTEN RAUMS | 9 ziert, versucht auch die Baukunst ihre Entwürfe in Bewegtbilder und Begriffe der Kinematografie zu fassen. 1 Diese beschreiben kinematische Effekte und Eindrücke von Ruhe und Bewegung, Zusammenfügung und Teilung, Gliederung und Komposition und fließen daher in den Entwurf von Architektur ein. Rhythmus wird als Maß der Bewegung zum wesentlichen Charakteristikum urbaner Räume und ihren Architekturen. Er wird in eine das Werk ordnende und gestaltende Komposition mit der Absicht übertragen, organische und lebendig empfundene Räume zu schaffen. In diesem Prozess wird die Wahrnehmung auf eine andere künstlerische Ausdrucksform übertragen: hier auf den Film und die Architektur. Ihre schöpferische Gestaltung erfolgt mittels Ordnungs-und Strukturprinzipien der Musik: die Sinfonie (Ruttmann) und die Fuge (Mendelsohn). Mit diesem formalen Konzept gelingt es, die rhythmischen Bewegungen urbanen Raums in eine nahezu audio-visuelle Komposition zu übersetzen. Erst als theoretische Überlegung, Skizze und Entwurf findet der bewegte Raum letztendlich zu architektonischer Gestalt. Vom Film dokumentiert und rezipiert, gleichsam analysiert und produziert ist er Ausdruck des allgemein so erlebten physischen Raums. In diesem Beitrag wird angenommen, dass der Entwurf von bewegtem Raum auf einer sinnlichen Wahrnehmung dynamischer Umgebung beruht. Dabei schreiben sich Fortbewegungsmittel und Verkehrsnetze in die schöpferischen Werke ein, wie die gewählten beiden Beispiele von Berlin aus den 1920er Jahren, die Stadtsinfonie und das Verlagshaus Mosse, es darstellen sollen. Hierfür werden theoretischen Überlegungen von Walter Gropius, Peter Behrens und Erich Mendelsohn, Entwurfs-und Gestaltungsprinzipien skizziert, welche zu deren analytisch-kritischen Auseinandersetzungen führten. Dies erfolgt im Hinblick der bestehen Analogien zwischen Ton-und Bildwelt, mit denen die Bau-und Filmkunst den Zeitgeist und Fortschritt moderner Räume postulieren. 1 Krausse, Joachim: Raum aus Zeit -Architektur aus der Bewegung; in: arch+, Nr.32 (1999), S. 22-29.