Die Anatomie des Neuen Menschen. In: Werner Michael Schwarz / Ingo Zechner (Eds.) Die helle und die dunkle Seite der Moderne. Festschrift zum 60. Geburtstag von Siegfried Mattl. Wien Turia+Kant, S. 136-145. (original) (raw)

Nach Angaben des Dr. Charles H. Maye in Rochester ist ein Mensch nicht mehr und nicht weniger wert als vier Mark, wobei Dr. Maye die Bemessung exakt auf Grund der Verwertbarkeit der in einem Menschen enthaltenen Rohstoffe vornimmt. So reicht das Fett eines Menschen zur Herstellung von sieben Stück Seife. Aus dem Eisen eines Menschen läßt sich ein mittelgroßer Nagel machen. Der Zucker langt für ein halbes Dutzend Faschingskrapfen. Mit dem Kalk kann man einen Kückenstall weißen. Der Phosphor liefert die Köpfe von 2200 Zündhölzern. Das Magnesium ergibt eine Dosis Magnesia. Mit dem Schwefel kann man einem Hund die Flöhe vertreiben. Und das Kalium reicht für einen Schuß aus einer Kinderkanone.« 1 Die Anatomie des Menschen, wie sie Rudolf Brunngraber in seinem neusachlichen Roman Karl und das Zwanzigste Jahrhundert zeichnet, ist eine nüchterne. Die minutiöse Bestandsaufnahme weist den Durchschnittsmenschen als Spielball einer prekären Umwelt aus, determiniert durch eine Vielzahl globaler Faktoren. Angeregt wurde Brunngraber zu dem Roman im Zuge seiner Arbeit am Wiener Gesellschaftsund Wirtschaftsmuseum (GWM) -konkret von dessen Leiter, dem Philosophen, Soziologen und Politischen Ökonomen Otto Neurath. Von der Stadtverwaltung engagiert, um eine sozial-hygienische Sprache der Information und Prävention zu schaffen, entwarf Neuraths Arbeitsgruppe Piktogramme, die -Einfachheit und Kohärenz zu einem quantifizierenden System verbindend -später als Wiener Methode der Bildsprache Isotype bekannt wurde. Neuraths Einflussbereich erstreckte sich von Projekten der Demokratisierung und Globalisierung von Wissen, Siedlerbewegung und Arbeiterunfallversicherung bis zur Unity of Science Bewegung des Wiener Kreises und der architektonischen Utopie der globalen Polis -der Idee, den öffentlichen Raum auf Basis von partizipativen Formen des demokratischen Austauschs umzuorganisieren. 2 1 Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert, Kronberg 1978, S. 288-290. 2 Vgl. Nader Vossoughian: Otto Neurath. The Language of the Global Polis, Rotterdam 2008. Neben allgemein sozialwirtschaftlichen Belangen informierte das GWM Besucherinnen und Besucher der Dauerausstellungen im Rathaus oder des Gassenlokals am Tuchlauben über Gesundheit und Gesundhaltung. Gründungsmitglied und Berater für medizinisch-biopolitische Themen war der Anatom Julius Tandler (1869-1936), der 1910 die venia legendi für Anatomie, Vergleichende Anatomie und Entwicklungsgeschichte erhalten hatte. Nicht nur Inhaber der ersten anatomischen Lehrkanzel der Universität Wien (1910-1934) und Dekan (1914-1918), sondern sozialdemokratischer Gesundheitspolitiker war Tandler eine der umstrittensten Persönlichkeiten der Zwischenkriegszeit. In der ersten Republik war Tandler Unterstaatssekretär und Leiter des Volksgesundheitsamtes (Krankenanstaltsgesetzt); mit Ende der Koalition wechselte er zur Stadt Wien und wurde amtsführender Stadtrat für das Wohlfahrts-und Gesundheitswesen. Obwohl er sich als Erwachsener evangelisch taufen ließ, wurde er als einer der prominentesten jüdischen Wissenschaftler der Zwischenkriegszeit wahrgenommen und polarisierte als Ankläger antisemitischer Agitation gerade durch seine einflussreiche Stellung in der Stadtverwaltung. Als Schlüsselfigur in der Entwicklung des Wohlfahrtsmodells des Roten Wien wird an Tandler heute durch Gedenksteine, Briefmarken, Medaillen und Straßennamen für seine Verdienste im Bereich der Kinder und Säuglingsfürsorge, der Schwangeren-und Mütterberatung, der Entwicklungen im Krankenhaus-, öffentlichen Bäder-und Gärtensystem und für seinen Kampf gegen Alkoholismus und Tuberkulose erinnert. 3