Universität – utopischer Ort der Wissenschaft (Uni Witten/Herdecke, Stufu-Topic 2007) (original) (raw)

Universität als Ort, wo Wahrheit als die konstitutionstheoretisch regulative, aber methodologisch konstitutive Idee der Wissenschaft wirklich wird * Vorbemerkung Einige Sätze möchte ich dem, was Herr Rustemeyer gesagt hat, anfügen, wobei ich dies aus der Perspektive eines Soziologen tue, welche eine andere ist, als die des Philosophen. Für den Soziologen ist Philosophie, die lange Statthalter auch der Wissenschaft in der Praxis war, dann zur Wissenschaft derart in Beziehung stand, dass sie die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis reflektierte, und heute, wo Wissenschaft auch dies noch selbst übernommen hat -oder jedenfalls im Prinzip übernehmen kann und muss -, heute ist sie eine purifizierte Form von Praxis, Praxis überhaupt sozusagen, aber eben bei aller erkenntnislogischen Differenz zur Praxis handlungslogisch doch vom gleichen Holz wie diese. Meine Sätze werden sich zunächst auf Wissenschaft, dann auf Wahrheit als eigentümlich geartete Idee der Wissenschaft und schließlich auf die eigentümlich unpraktische Form der Praxis von Wissenschaft: des Strebens nach Wahrheit, eingehen, für das die Universität den utopischen Ort abgibt -analog zur unpraktischen Praxis. Wissenschaft Wissenschaft ist eine späte Errungenschaft der menschlichen Gesellschaft. Wie jede Institution antwortet auch die Institution Wissenschaft auf ein gesellschaftliches Handlungsproblem: das der kulturellen Reproduktion und Erneuerung, welches handlungslogisch aus der notwendigen Krisenbewältigung der Lebenspraxis erwächst. Die Praxis hat im Zuge der Bewältigung ihrer Handlungsprobleme Wissenschaft als eine Sphäre hervorgebracht, in der ein spezifischer Aspekt dieses Problems methodisiert bearbeitet wird. Wissenschaft entwirft hypothetische Welten eines praktischen Andersseins, indem sie Geltungskrisen in einem hervorbringt und bearbeitet. Was in der primären Praxis, unserer Alltagspraxis, meist erst dadurch geschieht, dass Routinen -also bewährte Krisenlösungen -an Handlungsproblemen scheitern und somit neue Krisenlösungen erzeugt werden müssen, führt die Wissenschaft handlungsentlastet gezielt herbei. Mit der Etablierung der Erfahrungswissenschaften verwandelte sich das universelle Handlungsproblem der kulturellen Reproduktion und differenzierte sich aus zu dem Problem der Tradierung bewährten Wissens 1 einerseits, dem Problem der methodischen Überprüfung der Geltung dieses bewährten Wissens und seiner Erneuerung andererseits. Diese Geltungsüberprüfung ohne Not, zu der die Praxis mit Recht und treffend sagt: "Darüber nachzudenken ist doch müßig", bedarf von Anfang an einer Haltung der Kritik. Deren Entfaltung und die Befestigung dieser Haltung ruht in der kollegialen Praxis der Community of scientists, in welcher durch das Ernstnehmen der Argumente, das sich durch Kritik in der Sache ausdrückt, der Person als Kollegen Anerkennung zuteil wird. Gerade weil Wissenschaft auch das Selbstverständliche zum Erklärungsbedürftigen erhebt und seine Geltung überprüft, weil also die Zwecke der Praxis selbst für die Wissenschaft erklärungsbedürftig sind, können diese nicht Legitimationsgrund der Erfahrungswissenschaften sein. Nicht also von der Praxis gesetzte Zwecke oder Verwertungshoffnungen geben den Legitimationsgrund der Wissenschaft ab, sondern nur, dass die Praxis sich als eine begreift, zu deren Identität es nicht nur gehört, Probleme zu lösen, sondern zugleich auch stets, ein Anderssein ihrer selbst entwerfen zu können. Das Gemeinwesen, die Praxis, beruft sich -ob sie will oder nicht -dabei auf einen Mythos (vgl. Post 1969: 270), auf eine Erzählung davon, woher sie kommt, wohin sie geht und wer sie ist. Wenn anders die Praxis unseres 1 Wolfgang Sünkel hat in seiner Phänomenologie des Unterrichts (1996) klar herausgearbeitet, wie die Tradierung von bewährtem Wissen, bewährten Deutungs-und Handlungsmustern ein universelles Handlungsproblem darstellt, das von allen Gesellschaften gelöst werden muss. Universität -utopischer Ort der Wissenschaft -Fassung 19.4.2007 3/8 modernen Gemeinwesens nicht sich einem vormodernen Mythos verschreiben will, so gehören die Errungenschaften der Moderne, eben auch die Wissenschaft, zu ihrer Identität. Die Wissenschaft demgegenüber ist nicht einem Mythos, sondern dem Logos verpflichtet. Ihre Sphäre ist die der Begriffe, ihr Medium ist die Argumentation, ihre Praxis der Streit von Proponent und Opponent, die ihre konkrete lebendige Erfahrung in diesen Streit einbringen, die sie aber durch ihn in Erkenntnis transformieren. Wahrheit Der genannte Streit von Proponent und Opponent, der im Medium der Argumentation, in der Sphäre der Begriffe stattfindet, dieser Streit ist Ausdruck des Mottos, das über unserem Workshop steht: "Streben nach Wahrheit!" Wie steht es nun um dieses Streben? Max Weber führte 1919 in einem Vortrag über Wissenschaft als Beruf folgendes aus: "Die wissenschaftliche Arbeit ist eingespannt in den Ablauf des Fortschritts. […] Jeder von uns […] in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft, dem sie, in ganz spezifischem Sinne gegenüber allen anderen Kulturelementen, für die es sonst noch gilt, unterworfen und hingegeben ist: jede wissenschaftliche »Erfüllung« bedeutet neue »Fragen« und will »überboten« werden und veralten. Damit hat sich jeder abzufinden, der der Wissenschaft dienen will. […] Wissenschaftlich […] überholt zu werden, ist -es sei wiederholt -nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck. Wir können nicht arbeiten, ohne zu hoffen, daß andere weiter kommen werden als wir. Prinzipiell geht dieser Fortschritt in das Unendliche." (Weber 1919: 592f.) Universität -utopischer Ort der Wissenschaft -Fassung 19.4.2007 4/8 Wenn das so ist -wozu dann nach Wahrheit streben? Wenn wir in diesem Weberschen Sinne Erkenntnis zu gewinnen langen, so müssen wir zugleich davon ausgehen, dass diese Erkenntnis (a) einerseits niemals endgültig ist, dass sie (b) andererseits aber auch nicht beliebig ist, sondern mit Gründen erschüttert werden kann; dies ist schon Bdingung dafür, sinnvoller Weise von Kritik sprechen zu können. Wir müssen also zugleich akzeptieren, dass wir niemals "die Wahrheit" besitzen werden, dass in einem ontologischen Sinne Wahrheit zu unterstellen also wissenschaftlich sinnlos ist, da diese Unterstellung niemals überprüft werden kann. Hierauf hat Popper deutlich hingewiesen und dafür, im Rückgriff auf Kants Begriff der regulativen Prinzipien, die weder bewiesen noch widerlegt werden können, von Wahrheit als regulativer Idee gesprochen. Aber Wahrheit ist zugleich mehr. Wenn Erkenntnis nämlich im Streit von Proponent und Opponent, der im Medium der Argumentation sich vollzieht, mit Gründen erschüttert werden kann, müssen wir zugleich notwendig Wahrheit unterstellen -auch wenn sie sich nur in der Erschütterung bewährten Wissens zeigt. Damit ist Wahrheit für die Wissenschaft zugleich ein konstitutives Prinzip. Das hat Popper übrigens so nicht gesehen. Wir haben es also bei der Wahrheit zugleichin einem konstitutionstheoretischen Sinne -mit einer regulativen Idee zu tun, der wir nachstreben können oder auch nicht; und mit einer -in einem methodologischen Sinne -konstitutiven Idee, der nachzustreben wir nicht umhin können, wenn anders wir überhaupt Wissenschaft betreiben wollen. O b wir also Wissenschaft betreiben wollen, ist eine Frage unseres Selbstverständnisses (zum Selbstverständnis der Amish in Pennsylvania etwa gehört es nicht). Wenn wir aber Wissenschaft betreiben, gehört das Streben nach Wahrheit konstitutiv dazu -sonst betreiben wir eben keine Wissenschaft. Was dies für den einzelnen Wissenschaftler bedeutet, hat Weber im Anschluss an die zitierten Sätze ausgeführt: "Und damit kommen wir zu dem Sinnproblem der Wissenschaft. Denn das versteht sich ja doch nicht so von selbst, daß etwas, Universität -utopischer Ort der Wissenschaft -Fassung 19.4.2007 5/8 das einem solchen Gesetz unterstellt ist, Sinn und Verstand in sich selbst hat. Warum betreibt man etwas, das in der Wirklichkeit nie zu Ende kommt und kommen kann? Nun zunächst: zu rein praktischen, im weiteren Wortsinn: technischen Zwecken: um unser praktisches Handeln an den Erwartungen orientieren zu können, welche die wissenschaftliche Erfahrung uns an die Hand gibt. Gut. Aber das bedeutet nur etwas für den Praktiker. Welches aber ist die innere Stellung des Mannes der Wissenschaft selbst zu seinem Beruf?, -wenn er nämlich nach einer solchen überhaupt sucht. Er behauptet: die Wissenschaft »um ihrer selbst willen« und nicht nur dazu zu betreiben, weil andere damit geschäftliche oder technische Erfolge herbeiführen, sich besser nähren, kleiden, beleuchten, regieren können. Was glaubt er denn aber Sinnvolles damit, mit diesen stets zum Veralten bestimmten Schöpfungen, zu leisten, damit also, daß er sich in diesen fachgeteilten, ins Unendliche laufenden Betrieb einspannen läßt?" (Weber 1919: 593) Auf diese Frage muss letztlich jeder, auf den sie trifft, selbst eine Antwort finden. Der, zu dessen Gesetz es gehört, nach dem er angetreten, der wird nach Wahrheit streben, müßig, unpraktisch in dem vorhin angedeuteten Sinne, denn darin erfährt er nicht nur seinen Gegenstand, sondern immer auch sich selbst. Dass er es aber kann, dass er den Raum der Muße dafür findet, für sein unpraktisches Tun, bei dem nicht nur u. U. nichts Nützliches herauskommt, sondern bei dem auch nicht einmal auf Gewissheit im Sinne einer unerschütterlichen Erkenntnis der Wahrheit zu hoffen ist, dafür gibt es im eigentlichen Sinne keinen Ort. Ein Ort nämlich ist, wie sich etymologisch zeigen lässt, das Hier und Jetzt der Praxis. Wir hier, am Rande des Reviers, kennen noch den bergmännischen Ausdruck "vor Ort", was den Ort bezeichnet, wo gerade -akut -der Abbau stattfindet, wo gearbeitet wird. Wenn also ein Ort immer das Hier und Jetzt einer Praxis ist, dann ist die unpraktische Wissenschaft für sich genommen zunächst einmal ortlos:...