Ein postmoderner Bildungsroman. Christian Krachts "1979", in: Gegenwartsliteratur 3/2004. Ein germanistisches Jahrbuch / A German Studies Yearbook, hg. v. Paul Michael Lützeler u. Stephan K. Schindler, Tübingen: Stauffenburg 2004, S. 200–224. (original) (raw)
Nach Niklas Luhmann besteht die "Individualität des Individuums", wie sie vor allem seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts diskutiert wird, darin, dass das "Individuum" sich selbst überlassen ist. 1 Diese Überlassenheit, die man als "Freiheit", "Autonomie" oder auch "Selbstverwirklichung" ansprechen kann, beschreibt zunächst einmal Spielräume, die sich aus dem Übergang von einer stratifikatorisch zu einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ergeben. Selbst wenn man wie Luhmann davon ausgeht, dass sich diese Spielräume nicht hinreichend durch das traditionelle Schema von Individuum und Gesellschaft beschreiben lassen, sondern eine "Autopoiesis" des "psychischen Systems" annimmt, dann haben sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts doch signifikante Unterschiede herausgebildet, wie die Kontingenz dieser Spielräume bewältigt wird, wenn es seitens der Gesellschaft immer weniger strikte Einschränkungen und feste Vorgaben für die "psychische Autopoiesis" gibt. 2 Neben der emphatischen Betonung von Individualität lässt sich ebenso früh auch schon deren Scheitern beobachten, wenn das Thema des kopierten Menschen als die andere Seite der Individualität in der modernen Literatur auftaucht. "Individualität" auszuprägen, und das heißt, eine prinzipiell "kriterienlose Selbstreferenz" zu leisten, kann demnach nur gelingen, wenn sich die individuellen Spielräume in einem Muster von Wiederholung und Abweichung bewegen. Spätestens seit dem Dandyismus des späten 19. Jahrhunderts weiß man, dass die Kopie ein Lebensschicksal sein kann, der man sich auch nicht durch gesteigerte Originalität entziehen kann. Im Gegenteil, andere Lebensläufe zu kopieren kann eine gelungene Strategie sein, mögliche Kriterien für die eigene Selbstreferenz zu finden. 3 Neben dieser Lösung des Orientierungsproblems spricht Luhmann von einer zweiten Strategie des Austestens. Während sich das Kopieren immer im Spannungsverhältnis von Wiederholung und Abweichung bewegt, geht der "Anspruchsindividualismus" mit dem Überprüfen der Differenz von "System" und "Umwelt" einher. Ansprü-