Utopie (Degrowth Handbuch) (original) (raw)
2016, Degrowth. Handbuch für eine neue Ära
Utopie, wie das Wort selbst sagt, ist in ihrem ursprünglichen historischen Sinne eine Art Perspektive aus dem Nirgendwo, die einen scharfen und kriti-schen Blick auf die geltenden Verhältnisse der Gesellschaft ermöglicht (vgl. der erste große Utopiedenker Thomas Morus). So verstanden ist eine Utopie zunächst weder eine Zukunftsvision noch ein politisches Programm, sondern ein Nichtort intellektuellen Widerstands, in dem alternative Interpretationen der Gegebenheiten entwickelt werden. Erst später, unter Einfluss der christli-chen Tradition der Apokalypse, verlagerte sich das Nirgendwo des utopischen Blickes in die Zeit, sodass aus dem Nirgendwo ein »noch nicht«, eine in die Zukunft gerichtete Vision wurde, in der die Widersprüche und Konflikte der Gegenwart aufgelöst werden. Deswegen ist die Utopie auch wegen ihrer tota-litären Gefahr kritisiert worden: Demnach stellt sie sich als die alleinige per-fekte alternative Welt dar, in der keine weitere Kritik oder andere Optionen toleriert werden. Was ihre Form angeht, sind Utopien traditionell Erzählungen einer alterna-tiven idealen Gesellschaft, die an einem anderen Ort existieren soll, oder sich in einer anderen Zeit manifestieren wird. Inhaltlich beschreiben sie oft eine gute, bessere Welt und unterscheiden sich somit von den so genannten Dysto-pien, die düstere und negative Entwicklungen ausmalen. Utopien können unterschiedliche Funktionen haben: Zum einen liefern Utopien gemeinsam mit den Dystopien eine radikale Kritik der geltenden Ver-hältnisse einer Gesellschaft. Durch den Blick aus dem räumlichen oder zeitli-chen Nirgendwo können alterprobte Interpretationen der Realität und Selbst-verständlichkeiten suspendiert und hinterfragt werden. Darüber hinaus kann Utopie auch die einfache Funktion des Trostspenders haben – durch ihre alternative Vision dient sie als Kompensation für gegenwärtige Leiden, Ausbeu-tung und Unterdrückung. Insbesondere in ihrer religiös gefärbten Variante macht es das Narrativ der Erlösung möglich, unerträgliche Verhältnisse auszu-halten. Gerade diese Funktion der Utopie ist stark in die Kritik geraten, denn so kann Utopie im Widerspruch zur Veränderung gesellschaftlicher Unterdrü-ckungszustände stehen, wenn sie durch Trost die Widerstandskräfte entschärft