Zum alttürkischen Vokalsystem (original) (raw)

Annemarie von Gabain hat für die Gesamtheit der östlichen frühtürkischen Quellen den Terminus "Alttürkisch" benutzt; ihr folgend bezeichne ich mit diesem Namen hier sowohl die Runentexte als auch das sogenannte Uigurisch. Den Gebrauch dieses Terminus hat kürzlich Doerfer thematisiert. 1 Ich möchte mit der Zusammenfassung. unter einer Etikette nicht die historische Entwicklung leugnen, die es in sechs Jahrhunderten gegeben haben muß. Doch um gerade eine solche Entwicklung in den verschiedenen Sprachbereichen zu erkennen, erscheint es unerläßlich, das gesamte frühtürkische Korpus gemeinsam zu behandeln. Man kann jedenfalls offenbar nicht davon ausgehen, daß alle in einer der Schriftarten niedergeschriebenen Texte älter als solche in irgendeiner anderen Schriftart wären ; es gibt z.B. zweifellos Texte in uigurischer und in manichäischer Schrift, die älter sind als manche Runentexte. 2 Lexikalische und grammatikalische Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Quellen, etwa zwischen den königlichen Inschriften aus der Mongolei und dem übrigen Alttürkisch, sind nicht gerade auf historische Entwicklung zurückzuführen; öfter geht es um Isoglossen, wie es sie ja innerhalb des Uigurischen auch gibt. Es ist ein interessantes und wissenschaftlich ernsthaftes Unterfangen, anhand aller Türksprachen und anhand von Daten, die u. a. aus dem Mongolischen erlangt werden können, eine urtürkische Sprache zu rekonstruieren (s. dazu auch unten). Niemand wird aber behaupten können, daß alle Eigenschaften des urtürkischen Rekonstrukts auch im Alttürkischen erhalten sein müssen. Wenn wir von einer heutigen Sprache wüßten, daß sie direkt von einer alttürkischen Sprachform abstammt, könnte man einen zwischen dem Urtürkischen und einer derartigen Sprache liegenden Wert für das Alttürkische extrapolieren. Das ist aber nicht der Fa11. So sind wir für die Feststellung des alttürkischen Lautbestandes, um den es hier in erster Linie gehen soll, hauptsächlich auf die innere Evidenz dieses Sprach-.. korpus angewiesen. Es darf allenfalls eine generelle Ubereinstimmung mit son-stigen Sachverhalten und Entwicklungen postuliert werden. Ursprachliche Ge-gebenheiten in die Transkription konkreter alttürkischer Texte hineinzutragen, geht nicht an. Das zeigt sich z.B. beim Thema Langvokale. Anhand eines Vergleiches der Sprachen, die in ererbten Wörtern Langvokale aufweisen, können im Ur-1 Doerf er 1993. 2 Von Erdal (1978, 106) wurde anhand einer Verwechslung von dunkle und helle Harmonie bezeichnenden Zeichen die Vermutung geäußert, daß das lrq Bitig eine Vorlage in uigurischer Schrift gehabt haben könnte; diese Vermutung wird von Tekin (1993) übernommen.