Aufklärung, christlicher Glaube und theologische Vernunft (original) (raw)
2012, Theologische Zeitschrift
Der Begriff «Aufklärung» wird schon seit einiger Zeit in erweiterter Bedeu-tung verwendet: Ausser als Bezeichnung der geistesgeschichtlichen Bewegung des 18. Jahrhunderts findet er auch weitere technische Verwendungen: Er be-zeichnet einen Abschnitt der Griechischen Philosophie, der sich von der anti-magischen und antìtraditionalistìschen Kritik des Anaxagoras bis hin zur So-phistik und Sokrates erstreckt. Man spricht ausserdem von einem aufgeklàrten Pathos bei den «dialektischen» Denkern des XI., im Nominalismus des XIV. Jahrhunderts und im Humanismus. Nicht wenige gegenwàrtige philosophische Bewegungen beanspruchen die Bezeichnung fùr sich. Mit anderen Worten: Der Begriff «Aufklàrung» bezeichnet heute eine Haltung des abendlàndischen Geistes, deren wesendiches Merkmal eine «kritische» Einstellung bezeichnet. Die Tatsache, dass seit Kant letzteres Adjektiv programmatiseli dem Attribut «dogmatisch» gegenùbergestellt wird, làsst sofort eine Spannung erkennen, wenn auch nicht direkt zum christlichen Glauben, so doch zur Theologie: nàm-lich in dem Sinne, dass sogar einige ihrer Vertreter sichtbar in Verlegenheit ge-raten, wenn sic vor einer vom Begriff «Dogma» bestimmten Semantik stehen. Es empfiehlt sich deshalb von Anfang an zuzugeben, dass ein theologischer Diskurs iiberdie Aufklàrung zugleich ein Diskurs «?//ihr sein muss. Man ùber-treibt nicht mit der Behauptung, dieser Diskurs konstituiere das beherrschende Thema der abendlàndischen Theologie der letzten zwei Jahrhunderte. Genau diese Auseinandersetzung hat nicht nur die Kategorìen, sondern auch die Denk-form der verschiedensten Ansàtze mitgestaltet, in der protestantischen wie in der katholischen Theologie. Die Tatsache, dass àhnliche Entwicklungen — auf-grund unterschiedlicher geschichdicher Voraussetzungen — im òstlichen Chris-tentum nicht stattgefunden haben, bildet meiner Meinung nach den Grund fùr Unterschiede, die in der Òkumene ihre we&rtheologische Natur kundtun: Es kommen in erster Linie nicht einzelne Glaubensinhalte zur Diskussion, son-dern «apriorische Formen» des theoretischen Denkens. Die Debatte der letzten Jahrhunderte ist alles andere als friedlich verlau-fen, trotz der sich stàndig wiederholenden Bemùhungen, sic so zu gestalten. Man war im Gegenteil Zeuge eines Zusammenstosses, bei dem es um Leben und Tod zu gehen schien. In einer ersten Phase musste sich die Aufklàrung ThZ 3.4/68 (2012) S. 255-276