Kairos. Nachleben, Ikonographie und Hermeneutik, in "Das Münster", 2, 2017, p. 136-150. (original) (raw)

Das Verständnis des Zerreißens und Spaltens als eines Ereignisses, das Leben, Liebe und Weisheit hervorbringt (wie beim Zerreißen des Vorhangs im Tempel), ist tief verwurzelt im visuellen und textuellen „Körper“ des antiken und christlichen Denkens. Der uranfängliche kosmogonische Riss ist immer plötzlich, scharf wie ein Messer, wie ein Blitz unvermittelt und allumfassend und wird mit dem gesamten körperlichen Wahrnehmungsapparat erfasst: Erzittern, Glücksgefühlen, Seufzen, Wind und Atem. Der Riss ist die Epiphanie des radikalen Wandels, die Revolution und die Transition ins Jenseitige. Dieses Mysterium wird verkörpert in einer griechischen Gottheit: Kairos. Die Literaturgeschichte konnte zeigen, dass Kairos einen großen Einfluss auf die klassische Rhetorik hatte (Sophisten versus Aristoteles (385–322 vor Christus), auf die politische Philosophie der Humanisten, auf den post-modernen theologisch-philosophischen Diskurs in den Arbeiten von beispielsweise Paul Tillich (1886–1965), Walter Benjamin (1892–1940) und Evanghélos Moutsopoulos, und nicht zuletzt auf das derzeitige Revival des Kairos als Modell einer neuen Form des Zeitmanagements im Berufs- und Privatleben. In den letzten Jahren haben ikonographische Studien das Nachleben der griechischen Gottheiten in der byzantinischen und lateinischen Bildtradition untersucht, in der Kairos mit Fortuna und Occasio verbunden ist. Darüberhinaus erfuhr Kairos ein Revival in der humanistischen Ikonographie als ein Pendant zu Poenitentia (Reue). Dieser Aufsatz stellt Kairos nicht nur in seiner literaturgeschichtlichen Bedeutung und seinem ikonographischen Nachleben dar, sondern auch das Konzept der Gelegenheit als ein Paradigma der Kunstgeschichte. Kairos bietet eine altenative Hermeneutik, in der das Bild als ein Chronotopos, als eine Epiphanie und Unterbrechung verstanden werden kann. Auf diese Weise trägt der vorliegende Aufsatz zur grundlegenden Erforschung von Zeit und ihrer Wahrnehmung in Mittelalter und Früher Neuzeit bei, aber bietet auch Einsichten, wie Kairos als ein hermeneutischer Schlüssel funktioniert, when es darum geht, das Bild und seine Verbundenheit mit kulturellen Dynamiken zu verstehen.