Gegen das Gespenst der Moderne: Antijudaismus und Antisemitismus im Zarenreich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (original) (raw)
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Sprache und Antisemitismus im 19. Jahrhundert
1991
Sprache und Antisemitismus im 19. Jahrhundert Das abzuhandelnde Thema steht innerhalb des Denkrahmens dieser Tagung an eigentümlicher Stelle. Blickt man auf den Untertitel: "Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch", so muß man sagen, daß antisemitischer Sprachgebrauch jetzt an den Rand der Gesellschaft gedrängt ist. Es hängt dies nicht so sehr mit Selbstreinigungsleistungen der Deutschen zusammen, sondern erstens mit dem Bruch, den die Niederwerfung Deutschlands 1945 brachte, zweitens aber mit der Tatsache, daß die Menschen, denen man mit jenem Sprachgebrauch entgegentrat, aus dem Lande gejagt oder umgebracht worden sind. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tore vorbeigehend hineinsah. 9
Der moderne Antisemitismus in kapitalistischen Zeiten
2022
Da der Kapitalismus noch Jahrhunderte überdauern kann und antisemitische Vorstellungen auch nicht so schnell aus den Köpfen verschwinden werden, bleibt der politischen Bildung nur eine dritte Möglichkeit. Sie muss dabei helfen, das eigene Schicksal in einer kapitalistischen Welt zu verstehen, ohne in Verschwörungsnarrativen zu denken oder für alle Krisen nach den Schuldigen zu suchen, und sie muss widersprechen, wenn die kapitalistische Gesellschaft zur scheinbar natürlichen Ordnung erklärt wird. [...] In der pädagogischen Arbeit gegen Antisemitismus begegnen uns heutzutage solche antisemitischen Vorstellungen in verschiedenen Graden: mal nur als übernommene Falschinformation, mal als Mischung aus Faszination und Neid, die in dem antisemitischen Stereotyp der „reichen Juden“ zusammenkommt, mal als tiefer sitzendes Ressentiment. (Dieser Beitrag sollte ursprünglich in dem von Sina Arnold, Saba-Nur Cheema und Meron Mendel herausgegebenen Band "Frenemies. Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen" erscheinen.)
Antisemitismus als antimodernes Ressentiment
Gesellschaft unter Spannung. Verhandlungen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2020, 2021
Allenthalben wird beklagt, die Soziologie vernachlässige die Antisemitismusforschung. Tatsächlich scheint eine Soziologie des Antisemitismus immer noch nur "in Fragmenten" vorzuliegen, wie etwa Heiko Beyer 2015 bemängelte (Beyer 2015). Das liegt-wie bei der Vorurteils-oder der Rechtsextremismusforschung-auch daran, dass benachbarte Disziplinen diese Felder teils wirkungsvoll besetzen. Im Falle Antisemitismus sind vor allem die psychoanalytische Sozialpsychologie und die Geschichtswissenschaft zu nennen. Soweit, so bekannt. Auch die Organisatorinnen dieser Ad-hoc-Gruppe stellen ein Defizit bei der Soziologie fest. Mein Ausgangsgedanke für diesen Vortrag ist, dass die Soziologie selbst als Reaktion auf die Moderne entstanden ist-und damit zeitgleich mit dem modernen Antisemitismus. Wenngleich sich die Soziologie dem Thema eher sporadisch genähert hat, ist ihr klassischer Gegenstand-die moderne Gesellschaft-allerdings aufs Engste mit dem Gegenstand Antisemitismus verbunden. Aus dieser Überlegung heraus will ich skizzieren, was man von den Klassikern des Faches lernen kann und was eine allgemeine Soziologie des Antisemitismus als Programm, nicht nur als individuelles Forschungsprojekt leisten könnte. I Zunächst verstehe ich den Antisemitismus mit Klaus Holz (2001) als Weltanschauung, aber gleichzeitig als Teil einer antimodernen Weltanschauung (siehe ausführlich dazu Kiess et al. 2020). Shulamit Volkov (Volkov 1978, 2006) konzipiert den Antisemitismus zudem als kulturellen Code, der für alles mit der Moderne Verbundene steht, etwa die Emanzipation der Jüdinnen und Juden, aber auch der Frauen, sowie für Industrialisierung, Globalisierung, Imperialismus oder allgemein den Fortschritt. Die "Identifikation von Modernität und Juden" ist dabei selbstverständlich nicht auf die Juden zurückzuführen, sondern mit "alte[r] Judenfeindschaft, Vorurteile[n] gegen die Minorität und Opposition gegen die Moderne überhaupt" zu erklären, so Nipperdey und Rürup (1972, S. 136). Dass gesellschaftliche Modernisierung und moderner Antisemitismus miteinander zusammenhängen, spiegelt auch die historische Entwicklung der Wortschöpfung und seine Bedeutung wider: Der
Jüdischer und christlicher Antizionismus in Geschichte und Gegenwart
2024
Die Ablehnung eines jüdisch-politischen Staates – heutzutage als „Antizionismus“ bekannt – ist eine traditionelle rabbinische Position, die viel älter ist als der erst in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. aufgekommene politische Zionismus und seine Strategie der jüdischen Kolonisierung eines fremden Territoriums mit dem Ziel einer von nichtjüdischen Bewohnern „gesäuberten“, möglichst „araberfreien“ Staatsgründung. Aber auch das – noch ältere – neutestamentliche Christentum ist infolge seines biblisch-messianischen Verständnisses vom „Reich Gottes“ entsprechend der Lehre und Schriftauslegung von Rabbi Jeschúa (Jesus) von Nazareth und der von ihm unterwiesenen Verfasser der neutestamentlichen Schriften essentiell und unmissverständlich „antizionistisch“. Der in diesem Artikel enthaltene Exkurs zum Begriff „Israel-bezogener Antisemitismus“ – synonym als „antizionistischer Antisemitismus“ propagiert – soll einen der wirksamsten und aggressivsten Kampfbegriffe beleuchten, mit denen die israelischen Hasbarā-Strategen daran arbeiten, politische Demokratiebewegungen zu kompromittieren und legitime Boykottbewegungen und Sanktionsforderungen mit dem Ziel des Endes der Besatzung zu delegitimieren und kriminalisieren. Inhaltsverzeichnis: 1. Ist Antizionismus „antisemitisch“? 2. Woher stammt das „biblische Judentum“? 3. Die Entstehung des rabbinischen Judentums. 4. Der Zionismus als antijüdische Ideologie. Exkurs: Die Umdeutung des „Antizionismus“ zum „Israel-bezogenen Antisemitismus“. a) Zur Vorgeschichte. b) „Israel-bezogener Antisemitismus“ als kompromittierender Kampfbegriff. c) Die Folgen der Bedeutungsverschiebung. d) Schlusswort. 5. Der Zionismus als antichristliche Ideologie. 6. Zusammenfassung und Schlussfolgerung. ANHANG
Sozial.Geschichte Online, 2018
Dass der Antisemitismus in Deutschland nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten innerhalb kürzester Zeit durchsetzungsfähig wurde, war nicht allein Folge der brutalen Zerschlagung der politischen Opposition, der massiven Repression solidarischer Verhaltensweisen und der erfolgreichen ideologischen Durchdringung der deutschen Bevölkerung. Das Tempo, mit dem die Segregation der deutschen Bevölkerung vorangetrieben werden konnte, hing auch mit dem Zerfall institutioneller Organisationen und Strukturen zur Abwehr des Antisemitismus in der Spätphase der Weimarer Republik zusammen. Die Geschichte dieses Scheiterns nachzuzeichnen und die ergriffenen wie ausgeschlagenen Handlungsmöglichkeiten kenntlich zu machen, ist das Anliegen des folgenden Beitrags.