Religion und Wahnsinn um 1900: Zwischen Pathologisierung und Selbstermächtigung – Religion and Madness around 1900: Between Pathology and Self-Empowerment (Diskurs Religion: Beiträge zur Religionsgeschichte und religiösen Zeitgeschichte 14), Würzburg 2017. (original) (raw)

Religion und Wahnsinn um 1900: Zwischen Pathologisierung und Selbstermächtigung. Religion and Madness Around 1900: Between Pathology and Self-Empowerment. Diskurs Religion: Beiträge zur Religionsgeschichte und religiösen Zeitgeschichte 14. Würzburg: Ergon, 2017.

Der Sammelband widmet sich dem "religiösen Wahnsinn", wie er insbesondere in den Jahrzehnten um das Jahr 1900 gesellschaftlich und diagnostisch etabliert und verhandelt wurde. Die Herausgeber gehen davon aus, dass Fälle "religiösen Wahnsinns" bisher vorwiegend aus psychologischer Perspektive bearbeitet und als Beispiele pathologischer Erkrankungen beschrieben wurden. Eine interdisziplinäre Betrachtung des Themas soll hingegen die Schnittstellen zwischen Religion, Medizin, Psychologie und Gesellschaft sowie deren dynamische Grenzverschiebungen bzw. diskursive Verwobenheit hervorheben. Die Beiträge legen daher den Fokus einerseits auf konkrete Einzelbeispiele jenseits der in der Literatur bekannten und prominenten "Psychofälle" und diskutieren andererseits systematische Fragen zur gegenseitigen Konstituierung von religiösen Sinnsystemen, zeitgenössischen Krisenrhetoriken sowie "wissenschaftlicher" und "pseudowissenschaftlicher" Diagnostik und Therapie. Ein besonderes Interesse liegt zudem auf dem Diskurs über "religiöse und psychische Devianz", der nicht allein die Pathologisierung "religiösen Wahnsinns" ermöglichte, sondern gleichsam der Selbstermächtigung des religiösen Subjekts und dessen Befreiung aus den gesellschaftlichen Zwängen der Moderne Vorschub leistete. Eine zentrale These ist dabei, dass solche "Anormalitätsdiskurse" und deren breite Rezeption in Wissenschaft, Kunst und Religion den gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit den Ambivalenzen und Chancen der Moderne widerspiegeln und dies insbesondere am Beispiel des "religiösen Wahnsinns" zu Tage tritt.

Ulrike Huhn, Glaube und Eigensinn. Volksfrömmigkeit zwischen orthodoxer Kirche und sowjetischem Staat 1941 bis 1960, Wiesbaden 2014.

Wie lebten orthodoxe Christen ihre Religiosität in der atheistischen Sowjetunion der Kriegs- und Nachkriegszeit, nachdem in den Jahren des Terrors die meisten Kirchen geschlossen und viele Priester verhaftet worden waren? Orthodoxer Glaube und religiöse Praktiken waren, anders als die Bolschewiki vorhergesagt hatten, nicht tot. Sie lebten nur unter anderen Bedingungen und jenseits der Kirchenräume fort. Wallfahrten, Andachten und religiöse Feste schufen eigene Zeiten und Räume, die dem Zugriff des Staates weitgehend entzogen waren. Doch religiöses Leben und die atheistische Sowjetunion mussten nicht in einem Widerspruch stehen. Dies zeigte sich, nachdem die sowjetische Führung im Herbst 1943 eine scharfe Kehrtwende im Verhältnis zur Religion vollzogen hatte, u. a. um den westlichen Verbündeten entgegen zu kommen. Sie erlaubte die Wiederwahl eines Patriarchen und die Wiederherstellung der Kirchenstrukturen und schuf damit neue Bedingungen für orthodoxe Christen in der Sowjetunion. Damit vergrößerte sich der Spielraum für alle Akteure: Orthodoxe Gläubige bezogen in Abhängigkeit von ihrem Verhältnis zum sowjetischen Staat Stellung für oder gegen das nun von der Parteispitze unterstützte Moskauer Patriarchat; Priester gingen Allianzen mit staatlichen Vertretern ein und griffen mitunter auf die Ressourcen des Staates zurück; der Staat selbst schwankte zwischen Ablehnung und Duldung der Kirche und bestimmter kirchlicher Praktiken. Doch dies erzeugte nicht nur neue Spannungen. Viele Christen in der Sowjetunion beanspruchten nunmehr gesellschaftliche Normalität und Akzeptanz. In der Folge entstand eine neue gesellschaftliche Gruppe, die man als „sowjetische Gläubige“ bezeichnen könnte.

Keltomanische Exzesse. 2000 ADs Sláine als Bataill’sche Opferphantasie. RELIGION, GLAUBE UND FANTASTIK | 20.-22. Mai 2022 | INTERNATIONALES SYMPOSIUM DER INKLINGS GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR UND ÄSTHETIK e.V. | Centrum für Religionswissenschaftliche Studien | Ruhr-Universität Bochum

INTERNATIONALES SYMPOSIUM DER INKLINGS GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR UND ÄSTHETIK e.V., 2022

„‚Celtic‘ of any sort is, nonetheless, a magic bag, into which anything may be put, and out of which almost anything may come“, diagnostiziert J.R.R. Tolkien in „English and Welsh“ (1955). In der Tat sind keltische Kultur und Religion – gerade wegen der fragmentarischen Quellenlage – in den schillerndsten Farben popkulturell verarbeitet und mystifiziert worden. Sie mussten als Inbegriff rückständigen Aberglaubens herhalten, aus ihnen leitete man verklärte Figuren des ‚edlen Wilden‘ oder eines delinquenten Rebellendaseins ab. Eine der provokantesten Adaptionen keltischer Mythen und Motive findet sich im OEuvre des britischen Magazins 2000 AD in Form der Reihe „Sláine“, die seit 1983 die Comicbuchwelt mit drastischen Gewaltdarstellungen, antiautoritärem Humor und skurrilen Figuren aus der europäischen Legendenwelt bereichert. Diese exzessive Rezeption ‚keltischer‘ Stereotypen – die Autor Pat Mills durchaus als solche erkennt und transparent macht – ist weder Selbstzweck noch primär der Publikumsorientierung geschuldet, sondern resultiert aus einer eigenen, übergeordneten Logik, die Inhalt und Form der Comicbuchreihe maßgeblich prägt. Dem klassischen Schema der Campbell‘schen Heldenreise, an dem Mills seine Skripte bewusst orientiert, steht ein weiterer Komplex an ästhetischen und erzählerischen Elementen beiseite, den ich als „Opferphantasie“ bezeichne. „Sláine“, insbesondere die 1989/1990 erschienene Trilogie „The Horned God“, sammelt und rekombiniert eine Fülle an historischem Material ebenso wie theoretischen Einflüssen, darunter J. G. Frazers „The Golden Bough“ oder Urmatriarchatsideen im Sinne etwa Marija Gambutas´. Im Kern getragen werden die zahlreichen Konflikte in „The Horned God“ – zwischen dreifaltiger Muttergottheit und patriarchalem Sonnenkult, Gottkönig und keltischem „Punkertum“ (Mills), nihilistischem Hedonismus und heroischer Quest, ewigem Leben und heftigem, gewaltsamen Tod – vom Motiv des Opfers. Dieser zentrale Fluchtpunkt des Werkes lässt sich mit Theorien analysieren, die für ein Studium der Religion entwickelt wurden: Georges Batailles Schriften zum Thema Exzess, unproduktiver Verausgabung, Gewalt und Erotik dienen hierfür als Leitlinie. Aufgezeigt wird, dass „Sláine: The Horned God“ als Dokument popkulturell überformter ‚Keltomanie‘ gelten kann, das mythologische Bausteine, politische Implikationen und historische Spekulationen einbindet in eine derbe Bricolage. Erotik, Gewalt, revolutionäre Rebellion und das (kultische wie übertragene) Opfer finden hier zusammen als genau jenes vereinte Momentum, das Bataille und, im Anschluss daran, Julia Kristeva als Grundkonstante menschlichen Denkens und Handelns verorten.

 Frömmigkeit vor und nach der Reformation: Die Wallfahrt zur Heilig-Kreuz-Kapelle und der Leipziger Wunderbrunnen, in: Das religiöse Leipzig. hg. von Enno Bünz – Armin Kohnle, Leipzig 2013, S. 63-85.

hartmut Kühne 1836 veröffentlichte der leipziger rechtsanwalt Moritz Seeburg einen kleinen heimatgeschichtlichen Beitrag zur Geschichte der leipziger Wasserleitungen. 1 darin findet sich erstmals eine erzählung, die schon wenige Jahre später in Karl Großes "Geschichte der Stadt leipzig" referiert wurde 2 und rasch in den leipziger Sagenschatz eingang fand. 3 Seeburg berichtet, dass nach dem neubau des leipziger Georgenspitals im Frühjahr 1441 "ein blühendes Mägdlein mit freundlichem antlitz, in graue pilgerkutte gehüllt" namens Maria dort um unterkunft gebeten habe, da sie aus dem heiligen land zurückgekehrt sei. 4 ihre Frömmigkeit bewies sie durch tägliches Gebet am laurentiusaltar des Johannisspitals und häufiges orgelspiel in der Kapelle des Georgenspitals. Schließlich versammelte sie am Johannistag (24. Juni) die im hospital lebenden aussätzigen und rief ihnen zu "im namen Gottes sag' ich euch, wer heute mir folgt, der wird gesunden." 5 Sie zog mit den Kranken auf einen hügel vor der Stadt und betete dort, woraufhin an jener Stelle eine Quelle entsprang.