Heroismus und Pessimismus des philosophischen Menschen. Notizen über die philosophische Anthropologie von Cornelius Castoriadis Einleitung 2 (original) (raw)

Published in Gérard Raulet und Guillaume Plas (Hrsg.), Philosophische Anthropologie nach 1945. Rezeption und Fortwirkung, Nordhausen, Bautz 2014. Nachdem wir es geschaffen haben vermessen wir, Stück für Stück, unser Labyrinth. 1 Einleitung 2 Wie soll man Castoriadis lesen? Ist sein Leser in der Lage, Ressourcen für ein kritisches Potential zu finden? Mehr noch: ist es möglich, in diesem recht vielfältigen Werk anthropologische Thesen herauszufinden, die gewissermaßen mit einer emanzipatorisch--revolutionären Praxis vereinbar sind? Wenn man sich die zwar fragmentarische, aber doch in zunehmendem Maß durchaus vorhandene -Rezeptionsgeschichte von Castoriadis' Werk ansieht, erscheinen diese Fragen sicherlich naiv, wenn sie nicht gar als eine Provokation klingen. 3 Die Leser von Castoriadis würden sofort erwidern, dass es sich hier um Evidenzen handelt: Castoriadis sei ein durch und durch politischer Denker; ihn zu lesen sei hoch emanzipatorisch, weil Castoriadis auf beispielhafte Weise philosophisches Denken und politisches Handeln in einem revolutionären Entwurf vereine. Und in der Tat kann niemand bezweifeln, dass es bei Castoriadis ein ausgeprägtes Verhältnis zwischen Anthropologie und Politik gibt. Angebracht wäre daher eher die Frage, ob man diese Montage von Anthropologie und Politik akzeptiert. Und ferner: Akzeptiert man diesen philosophischen Ton? Zwei Lesehaltungen sind möglich. Einerseits finden wir eine euphorische Lesehaltung, die Castoriadis als Schlüsselautor eines gewissen Linksradikalismus und einer Militanz 1 Castoriadis 1983, 23. 2 Ich danke Arno Renken für die Verbesserungsvorschläge des deutschen Textes. 3 Vgl. die Publikationen des in Bruxelles an den Facultés Universitaires Saint Louis tätigen Groupe de Recherche Castoriadis. Die Cahiers Castoriadis, 7 Bände bis heute, sind von Laurent van Eynde, Sophie Klimis und Philippe Caumières dirigiert. Vgl auch Poirier 2011. für die radikale Demokratie, sogar für einen politischen Aktionismus, interpretiert. Hier wird der revolutionnäre Entwurf einer Transformation des homo oeconomicus durch die Zerstörung der zentralen imaginären Bedeutungen der kapitalistischen Gesellschaft gefeiert. Zu dieser Interpretationsrichtung gehören natürlich die Herausgeber des von Castoriadis' Nachlass. 4 Dabei wird Castoriadis als ein herausragender Philosoph präsentiert, dessen Grösse nur mit den ganz grossen Philosophen der abendländischen Tradition vergleichbar ist. 5 Es gibt aber auch gegenüber Castoriadis eine dysphorische Lesehaltung. Dann wird das Denken von Castoriadis kritisiert, 6 oder gar schlicht ignoriert. 7 Es handle sich um ein romantisches Denken, aus dem eine metaphysische Gewalt brüllt, beziehungsweise um ein Denken, das letzten Endes den Boden der Empirie zugunsten einer Ontologie des Unbestimmten verlässt. 8 Sowohl in den euphorischen als auch in den dysphorischen Lesehaltungen werden nur die Thesen von Castoriadis berücksichtigt, was durchaus berechtigt ist. Hier möchte ich jedoch einen anderen Weg einschlagen, obwohl es nicht einfach ist, sich von diesen Polaritäten zu befreien. Einem Rat von Michel Foucault folgend, möchte ich in den nachstehenden Analysen versuchen, die Philosophie von Castoriadis zu rhetorisieren. 9 Die Texte von Castoriadis erregen bei seinen Lesern unmittelbar Begeisterung oder Ablehnung. Ich möchte also einige hermeneutische Pfade erkunden, mit dem Ziel, diese Ambivalenz der Rezeptionsgeschichte von Castoriadis genauer zu umreißen. Ich werde versuchen, zwei miteinander verflochtene Themen zu artikulieren: erstens die Frage nach der Stellung der philosophischen Anthropologie im Werk von Castoriadis, zweitens die Frage nach dem in den Texten nachvollziehbaren Selbstbildnis des Autors. Anders gesagt : die anthropologische Frage ("Was ist der Mensch?") und die biographische Frage (anders ausgedrückt: die selbstprojizierte imago des Denkers mittels seines Stils) eröffnen einen Durchgangsraum, in welchem die Verweise zwischen dem Bild des Menschen und dem Bild des Philosophen Castoriadis einen von Affekten durchzogenen Denkstil zeichnen.