“Zeichen der Zeit heute aus lateinamerikanischer Perspektive”, en: P. Hünermann (ed.), Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit heute, Herder, Freiburg i.Br. 2006, 163-180 (original) (raw)

Angesichts der notwendigen Kürze meines Beitrags möchte ich die zentrale These und die Reihenfolge meiner Darlegung deutlich formulieren. Ich setze voraus, dass in diesem Symposium der Begriff "Zeichen der Zeit" bereits thematisiert worden ist. Ich möchte ebenfalls bemerken, dass -wenn man aus einer "lateinamerikanischen Perspektive" sprichtdies eine sehr wichtige Vereinfachung bedeuten kann, indem man nämlich ein wachsendes Bewusstsein für die Verschiedenheit und Pluralität von Kulturen und Traditionen beachtet, welche die Realität bilden, die sich in dem Namen "Lateinamerika" vereint. Seit dem zweiten Vatikanischen Konzil sind 40 Jahre vergangen. Die Aufmerksamkeit für den historisch-kulturellen Kontext hat sich seitdem wie eine der bedeutendsten Merkmale des kirchlichen Lebens und des theologischen, lateinamerikanischen Gedankens entwickelt. In den darauffolgenden Jahrzehnten ereigneten sich bedeutende soziale Umbildungen, die durch ihre Schnelligkeit und Tiefe alle Bereiche des lateinamerikanischen Lebens betrafen. Der Fall und Prestigeverlust des Sozialismus' Ende der achtziger Jahre und das Scheitern der neoliberalen Ideen Anfang des 21. Jahrhunderts sind charakteristisch für die neue Zeit. Eine kirchlich situierte Erfahrung und ein kontextuelles theologisches Denken müssen den Prozessen der Veränderung und den neuen sozialen Indikatoren besondere Aufmerksamkeit schenken. Dies alles beachtend scheint es, als bewahrten die Zeichen der Zeit, die in der zweiten Hälfte der sechziger und mit Beginn der siebziger Jahre wiedererkannt wurden, heute all ihren Wert, obwohl sie neue Nuancen und Perspektiven erlangen. Darin liegt vielleicht einer der Verdienste jener Generation von Gläubigen, mit denen Lateinamerika in das kirchliche, internationale Panorama einfiel -mit einer in gewisser Weise "eigenen" Erfahrung und Theologie. In Bezug auf die Reihenfolge meiner Darlegung, werde ich mich auf drei Punkte beschränken, die eine direkte Verbindung untereinander haben: (1) das historisch-kontextuale Bewusstsein, (2) das Thema der Armut verstanden als «extra pauperum nulla salus» und das Auftauchen neuer sozialer Subjekte und (3) das religiöse Phänomen und die katholische Kirche in Lateinamerika. Im Einklang mit der Perspektive, die mir zugewiesen wurde, konzentriere ich mich auf die Reflexion der "Zeichen der Zeit", die diese Themen und der historisch lateinamerikanische Prozess nach dem Konzil mit sich brachten.