Rahmenbedingungen der Marienfrömmigkeit im späten Mittelalter (original) (raw)

Manche Besucher mag es überraschen, dass jedes Objekt, mit dem sie zu diesem Thema konfrontiert werden, zwangsläufig unvollständig ist. Zusätzlich zur Interpretation des Kunstwerkes müssen auch die Rahmenbedingungen des Betrachtens rekonstruiert und interpretiert werden. Dieser Aufsatz befasst sich mit zwei verschiedenen Bezugssystemen, die jedoch miteinander in Verbindung stehen: erstens die materiellen Strukturen, die die Betrachtungsweise vieler Marienskulpturen formten, und zweitens die bildlichen Darstellungen von Betrachtern innerhalb solcher Rahmen. Madonnenbilder dokumentieren nicht einfach Marienfrömmigkeit. Vielmehr gewähren sie auch Einblick in die Art und Weise, wie sie in verschiedenen Kontexten von Kult und Andacht verwendet wurden. Wir sind gewohnt, klassische Skulptur in fragmentarischer Form zu sehen -was so weit geht, dass der moderne Geschmack dazu tendiert, einen zerbrochenen Torso einer vollständigen Kopie vorzuziehen. Im Gegensatz dazu verlieren mittelalterliche Skulpturen mit jedem verlorenen Körperteil oder Attribut an Eloquenz. Dieser Unterschied in der Auffassung hat nicht nur mit dem Zeitgeschmack oder dem zugrundeliegenden Kanon der Proportionen zu tun. Bei antiken Plastiken kann sich der Betrachter manchmal nicht nur unterbewusst die ganze Figur aufgrund des Fragments extrapolierend vorzustellen, sondern auch ihre äußerliche Erscheinung und Präsentation. Ungeachtet der historischen Verfälschung haben wir uns daran gewöhnt, klassische Skulptur jeglicher Farbe entblößt zu sehen, als ob sie im Originalzustand so blutleer gewesen wären wie die Gipsabgüsse, mit denen sie reproduziert werden. 1 Die meisten Skulpturen im Mittelalter, ob aus Stein oder Holz, waren in leuchtend polychromen Farben gefasst, die in fast allen Fällen im Laufe der Jahrhunderte schwer gelitten haben und von vielen Farbschichten immer wieder überdeckt ihre feinen Oberflächenkonturen verloren. 2 Beschädigungen und gefühllose Restaurierungen bezeugen nur die Distanz zwischen modernen und mittelalterlichen Anschauungsgewohnheiten. Nicht weniger wichtig sind Änderungen sowohl im kulturellen Umfeld als auch in der Verwendung für Andachtsübungen und rituelle Praxis, die alle zu dramatischen Verschiebungen führen können. 3 Ungeachtet der Verwüstungen des Bildersturms führte auch die Zerstörung von aufwändig ausgeführten Kirchenausstattungen im Namen der Modernisierung und liturgischen Reform zum Verlust oder zur dramatischen Veränderung großer Mengen mittelalterlicher Skulptur. Der Tabernakel der Madonna von Mailand im Kölner Dom ist nur eines von einer bedauernswert großen Anzahl von Beispielen (Abb. S. 42, 122). 4 Selbst wenn eine mittelalterliche Madonna relativ intakt erhalten ist, können wir nicht annehmen, dass sie ohne weiteres zur Besichtigung freistand. Berühmte Kultbilder waren oft mit Kronen und Gewändern bedeckt und in manchen Fällen mit einem abnehmbaren Christkind ausgestattet, wodurch die feineren Details der Schnitzerei und der Fassung überdeckt wurden. 5 Je mehr Beiwerk eine Madonna hatte, desto weiter war sie von der modernen ästhetischen Wahrnehmung entfernt. Ein solches Bildwerk war mehr als nur einfach eine Statue. Bewegt (zum Beispiel bei Prozessionen) als auch bewegend, im Kontext von Kult, Ritual und Andacht, hatten Marienbilder das Potential, eine beseelte, sogar lebendige Präsenz anzunehmen. Gemäß dem Glauben an Marias leibliche Aufnahme in den Himmel (was erst im 20. Jahrhundert offizielle Kirchendoktrin wurde), konnte es keine physischen Reliquien von der Jungfrau geben (außer einiger Tropfen ihrer Milch). Angeregt vom Wunsch nach Marienreliquien nahmen wundersame Gnadenbilder, zusammen mit Sekundärreliquien, sogenannten Kontaktreliquien (wie ihrem Gürtel, den sie der Überlieferung nach bei ihrer Himmelfahrt dem ungläubigen heiligen Thomas zuwarf ), die Stelle von Primärreliquien ein und verkörperten eine ähnliche Macht zu heilen, Gebete zu erhören und Wunder zu wirken. 6 Kein Wunder also, dass so viele mittelalterliche Legenden von einer lebendig gewordenen Marienstatue berichten. 121 RAHMENBEDINGUNGEN DER MARIENFRÖMMIGKEIT IM SPÄTEN MITTELALTER JEFFREY F. HAMBURGER Madonnenbild mit kniendem Mönch Missale, Prüm (?) um 1320/30 Berlin, SBB-PK Ms. theol. lat. fol. 271 fol. 13r 122 RAHMENBEDINGUNGEN DER MARIENFRÖMMIGKEIT Rekonstruktion des Tabernakels der Mailänder Madonna im Kölner Dom (nach Herbert Rode) Madonna unter Baldachin, Lektionar Westfalen um 1320 Baltimore Walters Art Museum Ms. W 148, fol. 2r 124 RAHMENBEDINGUNGEN DER MARIENFRÖMMIGKEIT Die Familie Viheli bei der Messfeier Schwaben, um 1410 Stuttgart, Württ.LM Inv.-Nr. 7796 Küsterin bei der Vorbereitung der Totenmesse süddeutsch,