" Es ist für Augenblicke, als würde die Schale der Erde unter einem zu Kristall... " – ‚Plötzlichkeit' als Konturierung des Augenblicks in Hugo von Hofmannsthals Aufzeichnungen und Tagebüchern (Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen. 2009, S. 147-173) (original) (raw)

Poetologie der Stimmung. Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit.Von Stefan Hajduk. Bielefeld: transcript, 2016. 516 Seiten. €44,99

Monatshefte, 2018

Die Ereignishaftigkeit vertikaler Zeit und ihre Öffnung des Raums Werthers im Brief vom 18. August sich in der Erinnerungszeit zurückträumende "Ach damals" einer komplexen Stimmungsevokation wird von Werther selbst als ein Vergänglichkeitsgefühl erklärt, aus dem anstelle von gestimmter Kohärenz das Bewusstsein von sukzessiver Zeitordnung hervorgeht. Letzteres hat Franz Brentano etwa einhundert Jahre später theoretisch über den Begriff der Proterästhese modelliert. 1 Was mit Proterästhese gemeint ist, fasst Manfred Frank bei seinem Vergleich mit einem Zeitdiagramm des Brentanoschülers Husserl so zusammen: "Die Figur veranschaulicht das im Jetztbewußtsein Mitgehabtsein der vergangenheitlich modifizierten jüngstverflossenen und kontinuierlich gereihten Vorstellungen, die alle (in gefächerten Zeitmodi) dasselbe Intentionalobjekt thematisieren." 2 Mithilfe dieses vorphänomenologischen Modells der Proterästhese lässt sich Werthers plötzlich einsetzender Stimmungsumschwung auch zeittheoretisch verstehen. Zunächst aber, wie Werther "nur" über die "Erinnerung jener Stunden" im Mai erneut in die damalige, ihn glücklich exzentrierende Stimmung eintaucht. (LjW 106) Diese ohnehin schon die Distinktionsleistungen der Wahrnehmung und zumal die Artikulationsmöglichkeiten der Sprache überfordernde Hochstimmung wird dadurch sogar noch zu steigern vermocht. In einem gewissermaßen quantitativen Sinne lässt die Erinnerung Werther seine aktuell ganz anders gefärbte Stimmung "doppelt empfinden" (LjW 106)-und übersteigert sie damit ins Unerträgliche. In einem gewissermaßen qualitativen Sinne bereitet die Erinnerung des Mai-Erlebnisses ihm den Schmerz der Zerrissenheit zwischen Stimmungsextremen. Dies zeigt sich in seiner "Anstrengung, jene unsäglichen Gefühle zurück zu rufen, wieder auszusprechen" (LjW 106, Hvh. St.H.). Denn so werden nicht nur diese Gefühle im Jetztbewusstsein vergegenwärtigt, sondern auch das über den Unsagbarkeitstopos eingespielte Problem ihrer Artikulierbarkeit (vgl. Vollmer 2003), das hier auf poetologisch selbstreflexive Weise als movens von Goethes Frühwerk erscheint. Das Zurückrufen und Wiederaussprechen ‚unsäglicher' Gefühle ist außerdem beglei

"(...) mit (...) diesem hahlen Heranwehen eines ewig Morgigen ..." Zu einer George-Reminiszenz in Hofmannsthals Schrifttumsrede und ihrer Übersetzung

Bei der vorb ereiteten Úbersetzung von Hofmannsthals Rede Das Schrifttum ais geistiger Raum der Nation (1927) ins Tschechische hatte der V erfasser m it manch ein er Form ulierung Hofmannsthals zu kám pfen. Zum einen scheint die Rede selbst durch die Wahl aparter Lexik und M etaphorik einen Beweis vo m Deutschen ais "Individualsprache" -im U nterschied zum Franzósischen ais "G em einsprache"1 -zu liefern, zum anderen w im m elt es im T ext von Rem iniszenzen, Allusionen, Kryptozitaten und schw er zuzuordnenden B egriffen: H ier m anifestiert sich eine M ehrschichtigkeit des Textes, die dem Em pfánger eine klare Botschaft verw eigert, ja eine einm al geahnte Botschaft bei der Entzifferung manch einer Stelle w ied er zu en tziehen droht. Bei der

"Was mich quält und niederschlägt sind die ewigen Erinnerungen an die Toten." Alexander von Humboldts schriftliche Reaktionen auf zwei Suizide im Frühling 1850.

2017

Im Frühjahr 1850 ereigneten sich in Alexander von Humboldts (1769-1859) persönlichem Umfeld innerhalb kurzer Zeit zwei Suizide. Ende März 1850 starb erst Humboldts ehemaliger Mitarbeiter Karl Sigismund Kunth (1788-1850), im Abstand von 30 Tagen dann Heinrich Kunth (1811-1850), ein Sohn von Humboldts Hauslehrer aus Kinder- und Jugendjahren. Zwar stellten Selbsttötungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts weder eine neue, noch eine seltene Art zu Sterben dar – Suizide sind als kulturelle Praxis bereits eingehend untersucht worden. Dennoch wurde – und wird in gewissen Kontexten bis heute – der selbst gewählte Tod als existenzieller Normverstoss verstanden. Beide hier beleuchteten Todesfälle berührten die ökonomischen und sozialen Kapitalien der Hinterbliebenen empfindlich, was Alexander von Humboldt zu schriftlichen Interventionen motivierte. Das vorliegende Paper möchte einerseits die damals verfügbaren Argumentationsmuster zu Selbsttötungen in der preussischen Öffentlichkeit beleuchten. Andererseits soll anhand zweier bisher nicht edierter Briefe diskutiert werden, wie sich Alexander von Humboldt schriftlich zu beiden Fällen verhielt.

"Mikrokosmische Autobiografie: Thomas Mann und die Zeitkapsel," Thomas Mann Jahrbuch 30, 2017, 113-131

Fall-was in die Ikonik des roralreprasentativen Nationalschriftstellers miindete. Dieses Bild ist rezeptionshistorische Realitat. Gleichwohl kann die Forschung, diesseits der spannenden Betrachtung der autorschaftlichen Leben-Werk-Synthese Thomas Manns, vermehrt auch nach dem suchen, was im biografischen Blick auf Mann und seine Texte bisher ctwas zu kurz kam. So waren vermehrt auch die wirklichen Rander des Mann'schen Werkes, die unbekannteren und biografisch scheinbar wenig >offenhcrzigen• Stellen auf Reflexe realer Geschichdichkeit zu priifen. Es ginge mithin weniger um das, was Thomas Mann immer schon selbstreflcxiv ins Bild hineinerzahlt hat-sondern um das, was gleichsam nu r als Spur einmaliger Historizitat seinen schwachen Abdruck hinterlieB. Es ginge kurzum um die abgriindige, verworrene Geschichtc des .20. Jahrhunderts, die nicht einfach (auto-)biografisch zu bandigen ist, und die in Wahrheit gerade von Thomas Mann mit oft wechselnder Optik erlebt wurde. Thomas Mann selbst-auch dies ein Eigenkommentar-bezeichnet sich einmal als »Melde-Instrument, Seismograph, Medium der Empfindlichkeir, ohne klares Wissen von dieser seiner organischen Funkrion« (XI, .240; Hervorh. CS). Und spricht ein andermal vom ,.frrtum, zu glauben, der Autor selbst sei der beste Kenner und Kommentator seines eigenen Werkes.« (XI, 614) Daran gilt es noch vermehrr anzukniipfen. Thomas Manns groBartige Texte haben bis jetzt noch jeder Reperspektivierung standgehalten.