Ethos (katá physin) antrôpô daimòn. Grundzüge eines Nachhaltigkeitsdenkens zwischen Phänomenologie und Naturphilosophie. In H.-R. Sepp, Phänomenologie und Ökologie, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2019, S. 11-28. (original) (raw)
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onlilne, 2004
Der Naturbegriff in der Ethik hat seine begründungstheoretische Funktion in der Moderne verloren. Dennoch! Nicht nur Habermas hat neuerdings seine Einschätzung eines evaluativen anthropologischen Naturbegriffes modifiziert; auch der Münster-Tatort in der ARD widmete sich bereits diesem Defizit der modernen Ethik und politischen Philosophie (Zwischen den Ohren, 18. Sept. 2011). Es gibt Gerechtigkeitsprobleme, die aufgrund einer nicht eindeutigen oder eindeutig mehrdeutigen Geschlechtszugehörigkeit entstehen. Intersex ist das Stichwort. In dem Artikel wird deutlich gemacht, dass man in der Ethik einen normativen Naturbegriff benötigt, der sich sowohl epistemisch als auch normativ an dem der Stoa orientiert, ohne naturalistisch fehlschlüssig zu sein oder antipluralistisch.
‚Natur' ist ein notorisch unhandlicher Grundbegriff unserer Weltorientierung und somit Gegenstand der Philosophie. Zugleich ist der Naturbegriff heute mehr denn je von politischer Bedeutung. Der vorliegende Schwerpunkt bietet einige von Theodor W. Adorno informierte Vorschläge dazu, wie die Philosophie zur Klärung dieses Begriffs und damit zugleich zur gesellschaftlichen Selbstverständigung beitragen kann.1 Leitend ist dabei die Überzeugung Adornos, dass unser Verhältnis zur Natur nur in der Reflexion auf soziale Praktiken und geschichtliche Erfahrungen zu erschließen ist. Was wie eine Verabschiedung von Philosophie klingen mag, begründet nach Adorno gerade ihre Aktualität: "Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward."2 Mit diesem einleitenden Satz stellt er sein philosophisches Hauptwerk einerseits in die auf Karl Marx zurückgehende Tradition einer Aufhebung der Philosophie. Andererseits ist diese Kontinuität gebrochen, da die Verwirklichung der Vernunft nach Adorno auch deshalb misslang, weil "die Interpretation nicht zu[langte], die den praktischen Übergang verhieß"3. Somit wird die Untersuchung der Gründe für das Scheitern der erhofften Emanzipation auch zu einer philosophischen Aufgabe. Schon für Adorno selbst war das Problem der Naturbeherrschung ein wesentlicher Gegenstand jener nachzuholenden Interpretation.4 Im Rückblick muss dies ebenso hellsichtig erscheinen wie seine Insistenz darauf, dass die Bedingungen autoritärer Regression keineswegs überwunden sind. Beides hängt zusammen: Weil die Beherrschung der inneren und äußeren Natur in keinem rationalen Verhältnis zu ihren Zwecken steht, kann "[d]er Faschismus […] die Rebellion der unterdrückten Natur gegen die Herrschaft unmittelbar der Herrschaft nutzbar […] machen"5. Heute, da Naturverhältnis und Autoritarismus wieder Brennpunkte 1 Der Schwerpunkt geht auf eine Tagung zur philosophischen Aktualität Adornos an der Berliner Humboldt-Universität im Dezember 2019 zurück. Für das Gelingen der Veranstaltung danken wir Rahel Jaeggi und den Mitarbeiter*innen des Center for Humanities and Social Change, der DFG und den Teilnehmenden, insbesondere Jay Bernstein, Katia Genel, Antonia Hofstätter, Bastian Ronge und Arvi Särkelä.
Ökologisches Ethos und Erfahrung
pp.237-247, in: Clarissa Kurscheid, Remi Maier-Rigaud, Michael Sauer, Hg., Lebenslagen und Gemeinwohl in modernen Gesellschaften, Baden-Baden , 2024
Der Essay plädiert dafür, die kompensatorische, poltische Ökologie um eine existenzielle Ökologie — ein ökologisches oder "grünes" Ethos — auf individueller und kollektiver Ebene zu erweitern. Dafür untersucht der Essay die Geschichte der ökologischen Erfahrung. Eine der zentralen Herausforderungen der Gegenwart ist es, die ökologische Zukunft unseres Planeten nachhaltig und lebenswert zu gestalten. Dabei geht es zum einen darum, die bereits bestehenden Umweltschäden zu korrigieren und zu kompensieren - zum anderen auch darum, weitere ökologische Beeinträchtigungen erst gar nicht entstehen zu lassen. Dafür müssen wir auf der kollektiven und individuellen Ebene unser Denken und Handeln verändern. Ein neues ökologisches Bewusstsein - ein ökologisches, grünes Ethos - ist nötig. Es geht darum, das bislang dominante anthropozentrische Ethos des homo oeconomicus und seine schrankenlose Welt-Aneignung und Natur-Ausbeutung durch ein «grünes» Ethos abzulösen. Nachhaltigkeit als Form der existentiellen Ökologie in ihren kollektiven und individuellen Dimensionen verlangt deswegen diesen Bewusstseinswechsel. Der Essay untersucht die Entstehung des modernen, anthropozentrischen Ethos, ausgehend vom Paläolithikum und der Bronzezeit, bis zur imperialen Idee des "dominium terrae" der Herrschaft über die Welt, zum Cartesianischen Dualismus und zur modernen Ersatzreligion des neo-liberalen Kapitalismus. Im Ausblick werden die Konturen eines alternativen ökologischen Ethos skizzert.
Zusammenfassung: Das Schwerpunktthema versammelt sieben Beiträge zur nachklassischen Phänomenologie in rezenten Diskursen der ethischen und politischen Theoriebildung, um das produktive und spannungsreiche Verhältnis von Ethik und Alterität in Hinblick auf Problembereiche der praktischen Philosophie auszuloten. Traditionell stellen sowohl Fragen des Ethischen als auch Fragen der Andersheit "Grenzprobleme" der Phänomenologie dar. Der Schwerpunkt versucht demgegenüber zu verdeutlichen, dass gerade diese Themenfelder einerseits innerhalb der Phänomenologie zu grundlegenden und weitreichenden Transformationen Anlass gegeben haben und andererseits zu der anhaltenden Relevanz phänomenologischer Forschung für ethische und politische Problemlagen einen wesentlichen Beitrag leisten. Im Rahmen dieser Einleitung wird knapp das spezifische Interesse an der Verschränkung von Ethik und Alterität in aktuellen Forschungszusammenhängen skizziert; darüber hinaus stellen wir die sieben Texte des Schwerpunktes in synoptischer Form vor.