Jenseits der Konsensgemeinschaft - Kulturwissenschaften im "socio-political turn"? (Aufschlagtext zur Debatte "Zur Frage des Politischen in den Kulturwissenschaften") (original) (raw)
2017, Zeitschrift für Kulturwissenschaften
What has become of the critical spirit? Has it run out of steam?« Bruno Latours Frage nach dem kritischen Geist der Wissenschaft (Latour 2004: 225) ist heute vielleicht aktueller denn je. Gerade die Kulturwissenschaften, die immer wieder einen emphatischen Kritikbegriff vertreten haben, sehen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, einen kritischen Zugriff auf gesellschaftlich-politische Realitäten vernachlässigt, wenn nicht gar verstellt zu haben. Dies wird vor allem auf ihre methodische Ausrichtung zurückgeführt: Gemäß einem »Konstruktivismus, der in der heutigen Kultur-und Wissenschaftslandschaft in verschiedenen Spielarten sein Unwesen treibt«, richte sich die Aufmerksamkeit auf Zeichen, Symbole oder Diskurse, während der materielle Wirklichkeitsbezug abgedunkelt und eine »postmoderne Flucht vor den Tatsachen« betrieben werde (Gabriel 2016). Damit wird nicht zuletzt eine poststrukturalistische Theorietradition in Zweifel gezogen, die seit den 1960er-Jahren an der »Extremposition« gearbeitet habe, es »existiere womöglich gar keine Wirklichkeit« (Gumbrecht 2016). Die solchermaßen eingeklagte ›Wirklichkeit‹ ist nicht von gesellschaftspolitischen Belangen zu trennen: Es sind »Fragen von Ungleichheit, Herrschaft und Ideologie«, die auf der Verlustseite eines »historistischen Antiessenzialismus« aufgeführt werden (Bude 2011/2012: 13f.). So scheint es, als sei den Kulturwissenschaften auch jenes Problemfeld der seit dem 19. Jahrhundert sogenannten ›sozialen Frage‹ entglitten, das etwa von (post-)marxistischen Historiker/innen vermessen und analysiert worden