"Selbstorganisation und Demokratie am Arbeitsplatz: Parti- zipation, ArbeiterInnenkontrolle und Selbstverwaltung in globaler Perspektive" (original) (raw)

Auch dieses Jahr gaben zwei Jahrestage das Thema für die alljährliche Konferenz der ITH vor, dem traditionsreichen Forum für HistorikerInnen, die sich mit der Geschichte von Arbeit und ArbeiterIn-nenbewegungen beschäftigen. War es letztes Jahr das hundertjährige Jubiläum der Russischen Revolution , so sind es dieses Jahr die Jubiläen der Revolutionen in Mitteleuropa 1918 und der 68er-Bewegung, die die OrganisatorInnen dazu veranlassten, die verschiedenen Formen demokratischer Beteiligung und Selbstverwaltung am Arbeitsplatz zur übergreifenden Fragestellung zu erheben. Damit knüpfen sie an die Konferenz vom letzten Jahr zu "Revolution und Arbeitsbeziehungen" an, waren es doch oft revolutionäre Umbrüche, die mit einer Demokratisierung am Arbeitsplatz einher-gingen. Nicht zuletzt waren es die Revolutionen um 1918, die zu entsprechenden arbeitsrechtlichen Neuregelungen führten, während die Bewegungen um 1968 in vielen Ländern auch Auswirkungen auf die industriellen Beziehungen hatten, was heute freilich selbst unter HistorikerInnen wenig be-kannt ist. Vor allem aber gingen solche historischen Bewegungen mit einer Vielzahl an Versuchen konkreter ArbeiterInnenselbstverwaltung im Betrieb einher, sei es, indem bereits existierende kapi-talistische Betriebe von ArbeiterInnen übernommen wurden oder indem diese neue Unternehmen gründeten. Die Bandbreite der Forschung zu diesem Thema ist sehr groß, allerdings, so beklagen die Organi-satorInnen in ihrem Konferenzaufruf, würden in den zumeist an einer politischen Geschichte der Ar-beiterInnenbewegung oder einer alternativen Unternehmensgeschichte orientierten Studien Fragen bezüglich der Arbeitsbeziehungen und der inneren Funktionsweise der Demokratie am Arbeitsplatz ausgeblendet. Zu den Zielen der Konferenz wurden daher sowohl eine Klärung und Kategorisierung der Begriffe und Konzeptionen, als auch eine Untersuchung tatsächlicher Praktiken der Beteiligung und der Entscheidungsfindung erklärt. Den Eröffnungsvortrag hielt Dario Azzellini (ILR School, Cornell University, Ithaca), der insbe-sondere durch eine Reihe von Untersuchungen und Publikationen zur Geschichte von ArbeiterInnen-kontrolle und ArbeiterInnenselbstverwaltung bekannt geworden ist. In seinem historischen Überblick erklärte er Kooperation zu einer anthropologischen Konstante und Grundlage von Gesellschaft an sich. Dementsprechend fänden sich frühe Formen von Produktions-und Konsumentenvereinigungen bereits in der Antike und im Mittelalter. Dazu zählte er auch Formen gegenseitiger Hilfe (Mutualis-mus), wie sie etwa in den Zünften anzutreffen waren und wie sie bis in die frühe ArbeiterInnenbe-wegung hineinreichten und schließlich die Grundlage für den modernen Sozialstaat in einigen Indust-riestaaten bildeten. Sein Vortrag konzentrierte sich aber vor allem auf das 20. Jahrhundert, in dem er mehrere Wellen der Entstehung von selbstverwalteten Betrieben und der Demokratisierung am Arbeitsplatz ausmachte. Dazu zählte er sowohl die Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg, als auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als in vielen Ländern ArbeiterInnen Betriebe übernahmen und die Produktion in Eigenregie wieder aufnahmen. Auch die nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika und Asien waren ein fruchtbarer Boden für entsprechende Bestrebungen und Versuche, sowie der Sturz einer Reihe von Diktaturen in den 1970er-Jahren in Südeuropa und Lateinamerika. Eine neue Welle von Betriebsübernahmen durch ArbeiterInnen ist seit Beginn des 21. Jahrhunderts zu beobachten, die nun aber im Unterschied zu früheren Zeiten nicht aus der Stärke einer offensiven Bewegung heraus erfolgt, sondern in einer Krisensituation, in Zeiten, in denen die Arbeiterbewegung sozial und politisch fragmentiert und geschwächt ist. Angefangen mit Argentinien 2001 übernehmen ArbeiterInnen bis heute an vielen krisengeschüttelten Orten stillgelegte Betriebe, um ihre Arbeits-plätze zu erhalten. Der Erfolg hängt dabei nicht selten davon ab, ob sie Teil einer breiteren sozialen