Ambivalenzen linker Institutionskritik - Auseinandersetzung mit Bourdieus Institutionsverständnis (original) (raw)
Seit Beginn der Nachkriegszeit leben wir in westlichen Industriestaaten in einer freiheitlich-demokratischen Ära. Für Menschen, die nach dem Berliner Mauerfall geboren wurden und ihren Lebensweg in westlichen Industrienationen beschritten haben, ist die freiheitlich-demokratische Staatsordnung als mustergültiger Zustand und konstanter Rahmen gesetzt. Freiheitliche Demokratie scheint erlebte Normalität, ja fast könnte sie als Naturzustand eines Staates interpretiert werden. Mit dieser Lebens-und Alltagserfahrung geprägt, lässt eines der in der Nachkriegszeit meistzitierten deutschsprachigen Diktums aufhorchen: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Vorausset-zungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist» (Böckenförde, 1976, S. 60). Die ersten beiden Sätze des berühmten Böckenförde-Diktums relativieren die gefühlte Demokratiegarantie und weisen auf die Fragilität einer freiheitlich-demokratischen Staatsordnung hin. So wie die freiheitliche Ordnung heute ist, muss sie nicht zwingend sein und bleiben. Es stellt sich unumgänglich die Frage, welche Voraussetzungen eine freiheitlich und demokratisch organisierte Gesellschaft zusammenhalten. Gemäss dem Böckenförde-Diktum basieren diese Voraussetzungen auf Regulierungskräften, welche die den Bürgern gewährte Freiheit regeln. Dabei müssen die Kräfte von innen heraus auf individueller und ebenso auf kollektiver Ebene garantiert sein, ohne dass der Staat diese mittels «Rechtzwanges und autoritativen Gebots» durchzusetzen hat. Es braucht folglich einen Kitt, der das Gebäude der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zusammenhält und von den Bewohnern dieses Gebäudes selbstmotiviert laufend gefestigt wird. Eine wichtige Komponente dieses verbindenden Kitts möchte ich in diesem Essay in Institutionen sehen. Institutionen definieren sich gemäss der Encyclopaedia Britannica als «a set of formal rules (including constitutions), informal norms, or shared understandings», die von staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren formalisiert und durchgesetzt werden. In diesem Sinne zeigen sich Institutionen sowohl in immateriellen Konstrukten und Ideen wie Recht, Religion, Heirat oder Familie, als auch in physischen Verdinglichungen, wie Universitäten, Börsen, Regierungsgebäuden oder Kirchen. Sie haben im gesellschaftlichen Raum eine Orientierungsfunktion, anhand der Richtungsentscheidungen mit Verlässlichkeit getroffen werden können (Ferguson, 2014, S. 12). Institutionen beeinflussen damit unser Verhalten und unsere Interaktionen. Institutionen gehören zu modernen Gesellschaften. Diese Selbstverständlichkeit reflektiert sich in der grundlegenden institutionstheoretischen Annahme, nach der Institutionen gesellschaftlich als alternativlos wahrgenommen würden und damit garantiert seien (vgl. z.B. die Schule des soziologischen Neoinstitutionalismus). Institutionen bilden eine stabile Gesellschaftsstruktur, in die vertraut werden kannso die Annahme. In der Realität schwindet dieses Vertrauen in Institutionen jedoch in westlichen Industrienationen (Botsman, 2017, S. 40-50). Ereignisse wie die Finanzkrise, die Panama Papers, der VW Dieselskandal oder die katholischen Missbrauchsaffären strapazieren das Vertrauen in angestammte Institutionen und Eliten, die diese Institutionen besetzen. Vertrauenseinbrüche aufgrund von institutionellen Krisen gab es im historischen Verlauf immer wieder, doch ist das Ausmass und die Geschwindigkeit des gegenwärtigen Vertrauensverlustes zwischen Bürgern und Institutionen neuartig (Botsman, S. 41). Der Kitt, der freiheitlich-demokratische Gesellschaften zusammenhält, bröckelt. Die gesellschaftliche Stabilitätsfunktion von Institutionen und den Zeitgeist des angeschlagenen Vertrauens gegenüber Institutionen möchte ich in vorliegendem Aufsatz mittels Bourdieus linker Kulturtheorie besser verstehen. Bourdieus Kulturtheorie eignet sich für eine solche Analyse, da er mit dem Wandel zur kapitalistischen, modernen Gesellschaft ein Erstarken von Institutionen annimmt, dabei die zunehmende Wichtigkeit von Institutionen aber gleichzeitig kritisch beurteilt (Fröhlich & Rehbein, 2014, S. 182). Sein Institutionsverständnis wird von mehreren Seiten ergründet. Erstens wird der