Migrationswissensgesellschaft!? Ein Versuch zur Triangulation sozialer Wirklichkeit im begrifflichen Scherbenhaufen der Spätmoderne (original) (raw)

2020, Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte

Soziologische Zeitdiagnosen fokussieren einzelne Aspekte gesellschaftlichen Wandels -und bringen sie nicht selten auch noch auf einen Begriff. So wird die soziale Wirklichkeit heute unter anderem als »Wissensgesellschaft« beschrieben, als eine Gesellschaft also, in der die »Erzeugung, Speicherung und Nutzen von Wissen« eine neue, gesteigerte Aufmerksamkeit erfährt, wissenschaftlich, politisch, kulturell und ökonomisch. 1 Doch dies ist nur einer von vielen verschiedenen Aspekten gesellschaftlicher Transformationen in der Spätmoderne. In anderen Debattenkontexten steht der Befund »Migrationsgesellschaft« im Zentrum. 2 Die heutige soziale Wirklichkeit sei demnach ganz maßgeblich durch internationale Wanderungsdynamiken und die darauffolgenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen geprägt. Für sich genommen sind beide Partialdiagnosen schlüssig und ergiebig. Doch was, wenn man sie nebeneinanderstellt? Was für ein Bild sozialer Wirklichkeit ergibt sich dann? Leben wir etwa auch in einer Migrationswissensgesellschaft? Und wenn ja, was hieße das? Das notdürftig verklebte Begriffskompositum ist zweifelsohne unansehnlich. Es verweist jedoch auf einen blinden Fleck dieser metonymischen Zeitdiagnostik, in der Einzelnes zum Spezifikum eines gesellschaftlichen Ganzen erhoben wird: Was ist mit den Wechselwirkungen, Querverbindungen, Resonanzen und Störungen zwischen den verschiedenen Aspekten und Entwicklungssträngen? Wie verhalten sich diese zueinander, zum Beispiel im Fall des Dreiecks Migration, Wissen, Gesellschaft? Das internationale Phänomen des brain drain, des weltweiten Kampfes um die klügsten Köpfe und Wissensarbeiter*innen also, und die damit verbundene Unterscheidung zwischen high skilled und low skilled migration deuten auf eine komplexe Verflechtung von Migration, Wissen und Gesellschaft in der Spätmoderne hin, der im Folgenden am Beispiel der Geschichte der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgegangen wird.