Eine Einführung in das Schwerpunktheft zu Jacques Rancière, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie (original) (raw)

Jacques Rancières heterogenes Werk, das historiographische Archiv-arbeiten zur Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, Schriften zur Pädagogik, Literatur, Kunst, Film sowie politiktheoretische Reflexionen und aktuelle, politische Interventionen umfasst, beschäftigt sich grundlegend mit der Frage nach den Möglichkeiten intellektueller und politischer Emanzipation. Rancière entwickelt in seiner Dissertation Die Nacht der Proletarier (2013 [1981]), die in Frankreich lange Zeit aufgrund ihrer unorthodoxen Methodik weder in der Philosophie noch in der Geschichtswissenschaft anerkannt wurde, 1 eine Herangehensweise, die systematisch disziplinäre Grenzen überschreitet. Diese Herangehensweise, die er später als »Methode der Gleichheit« bezeichnen wird, geht von der Annahme aus, dass jedes Subjekt mit potentiell jedem Gegenstand-sei es ein Buch oder ein Stück Papier-einen Ausgangspunkt finden kann, um etwas zu lernen und sich selbst zu emanzipieren. In seiner Dissertation erforscht er das intellektuelle Emanzipationsbestreben der Saint-Simonischen Arbeiter des 19. Jahrhunderts, indem er die von ihnen verfassten Texte mit an-deren literarischen, juridischen und religiösen Quellen der Epoche in Verbindung setzt. Rancière interessiert sich für die sinnlichen Erfahrungen der Arbeiter, von denen ihre Texte zeugen, anstatt sie ausschließlich als Ausdruck ihrer spezifischen, sozio-ökonomischen Position zu begreifen. Er greift dementsprechend auf die Texte der Arbeiter wie herkömmliche Schriftstücke und Erkenntnisquellen zurück. Dabei etabliert er auch eine Schriftebene der Gleichheit, in welcher sich die Texte der Tischler, Schuster und Schneider mit seiner eigenen Stimme vermischen. Er schafft derart eine egalitäre »Szene«, in welcher die Unterscheidung zwischen den Erzählungen der Akteure und die wissenschaftliche Erklärung dieser Erzählungen aufgehoben wird. In seinem noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegenden Buch La Méthode de la scène (2018) exemplifiziert Rancière seine Methode der Verifikation von Gleichheit als eine Methode der Szene. Er legt dar, wie er ausgehend vom Gleichheitspostulat und in kritischer Abgrenzung zu kausalistischen und positivistischen Erklärungsansätzen seine Analysegegenstände in narrative Szenen konstruiert. Seine historiographischen Archivarbeiten in Die Nacht der Proletarier und Der unwissende Lehrmeister (2007 [1987]) inspirieren wiederum seine Denkfiguren der Gleichheit und des Dissens, die so-wohl für seine politischen Reflexionen und Interventionen als auch für seine Interpretation literarischer und im weiten Sinne künstlerischer Werke fundamental sind. Die Methode der Gleichheit lässt sich als eine polemisch-demokratische Suchbewegung verstehen, die die Grenzen der Disziplinen und des Wissens aufbricht sowie Haltungen, Erfahrungen, Stimmen und sogar Emotionen sichtbar macht und von einem Feld in ein anderes überträgt.