(Ent-)Mythologisierung deutscher Geschichte. Erzählstrategien in ausgewählten Romanen Uwe Timms (original) (raw)

Scheitern in der Neuen Welt. Utopische Orte in Uwe Timms Romanen »Der Schlangenbaum« und »Ikarien«

Linda Maeding (Hg.): Utopie: Postkoloniale Lektüren Poetiken, Räume, Gemeinschaftsentwürfe, 2024

Scheitern in der Neuen Welt Utopische Orte in Uwe Timms Romanen Der Schlangenbaum und Ikarien Die Utopie hat keinen Ort, das sagt schon ihr Name. "Utopie", so liest man zum Beispiel im Sachwörterbuch der Literatur, bezeichnet einen "nur in gedankl. Konstruktion in e. imaginierten, räumlich oder zeitlich entfernten Welt erreichbaren, praktisch nicht zu verwirklichenden Idealzustand von Menschheit, Staat und Gesellschaft" 1. Nimmt man diesen Artikel zum Maßstab, dann scheint die Sache klar: Utopien sind fiktionale Nicht-Orte, und sie dienen der Projektion einer besseren gesellschaftlichen Zukunft. Aber es sind auch Differenzierungen gegenüber dieser griffigen Definition nötig. Die Utopie ist, um es grob zu umreißen, zum einen eine literarische Gattung, zum anderen der in ihr beschriebene Nicht-Ort, und sie ist, drittens, ein negativer Modus des Sprechens über das Bestehende. Vergeblich sucht man in den Romanen Uwe Timms nach dem fiktionalen Entwurf eines insulären Idealstaats, nach faszinierenden technischen Entwicklungen, die das Leben seiner Bewohner ungeheuer verbessern oder etwa nach der positiv beschriebenen Vision einer Gesellschaft ohne Gewalt oder Privatbesitz. Dennoch ist in seinem Werk das Utopische selten weit, und auch wenn es nur in Augenblicken aufscheinen mag, so werden seine Konturen doch als die eines anderen, richtigen Lebens sichtbar, in dem die Verhältnisse nicht mit Trägheit und Gewalt auf dem Individuum lasteten. Das Utopische, so verstanden, ist das Erbe einer marxistisch-messianischen Denkschule, die mit Autoren wie Ernst Bloch und Walter Benjamin 2 verbunden ist und die in der Studentenbewegung, aus der Uwe Timm als Schriftsteller hervor gegangen ist, maßgeblichen Einfluss hatte.

Mythen in deutschsprachigen Geschichtsschulbüchern. Von Marathon bis zum Élysée-Vertrag

Dieser Band befasst sich mit Formen und Funktionen von europäischen wie nationalen Mythen in den deutschsprachigen Schulbüchern Deutschlands, Österreichs und der Schweiz von der Schlacht bei Salamis über den Behaim-Globus bis zum Elysée-Vertrag. Dabei wird auch nach unterschiedlichen Zugängen zum Mythos-Begriff in den Kulturwissenschaften und in der Geschichtsdidaktik sowie den sich hieraus ergebenden Impulsen gefragt. Die Schwierigkeiten der De-Konstruktion populärer Geschichtsmythen werden ebenso diskutiert wie die Tradierungsbedürfnisse und Deutungsmuster, die diese Mythen bedienen. Schließlich loten die AutorInnen aus, wie sich über die Beschäftigung mit Mythen neue Perspektiven für die Entwicklung eines kritischen Geschichtsbewusstseins im Unterricht gewinnen lassen.

Comic und Geschichtsbewußtsein - Mythisierung im Gegensatz zur Historisierung

Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics., 2011

Jedes Erzählen interpretiert das Erzählte neu, sowohl historisch kritisches, als auch mythisierendes. Die oben gezeigten Beispiele der Fotoverwendung in Maus zeigt, dass auch um historische Korrektheit bemühtes Erzählen von narrativen Konventionen beeinflusst wird. Differenzierte Auseinandersetzungen stehen dabei neben verzerrten Darstellungen und beide wirken gemeinsam auf das kollektive Erinnern und den Umgang der einzelnen Kulturen mit der eigenen und der gemeinsamen Weltgeschichte. Die Mythisierung der Nazi-Zeit durch ihre Einbindung in andere narrative Zusammenhänge hat es deutlich schwieriger gemacht, die historischen Ereignisse, Verhältnisse und Zusammenhänge im kollektiven und kulturellen Gedächtnis zu bewahren, ohne sie fiktional zu verzerren. Die Beispiele aus amerikanischen Abenteuer- bzw. Superhelden-Comics verdeutlichen, wie ein Themenbereich Zeichen, Motive und Stoffe liefert, als absolut böse klassifiziert, ausgeschlachtet und mit anderen aus beliebigen Zusammenhängen, nicht zuletzt der Popkultur, stammenden Motiven und Figuren verbunden wird. Etablierte Erzählmuster verlangen nach stereotypen Figuren, die mit entsprechend vereinfacht konstruierten und bewerteten Typen gefüllt werden. Witzfiguren oder Horrorpersonal, übermächtige hemmungslose Ultraschulken oder lächerliche Größenwahnsinnige dominieren. Beide Extreme finden sich mit Nazi-Attributen ausstaffiert, beide tragen dazu bei, dass die historischen Verhältnisse und Personen immer weniger bedeutsam sind, sondern mythisch überhöht werden: Angesichts von Superkräften bei Helden und Feinden reichen normale Schurken und Verschwörungen nicht mehr aus, die Erkenntnis der "Banalität des Bösen" verschwindet, da der Gegner unbegrenzt machtvoll werden muß, denn nur dann kann der Kampf immer weiter gesteigert werden. Und je hemmungsloser böse und mächtiger der Feind gezeigt wird, um so schwieriger ist zwar der Sieg des Guten, das sich zugleich aber als noch stärker als dieser unbezwingbar wirkende Feind erweist. Leser ohne Wissen über diese historische Vorlagen sind kaum in der Lage, die Verdichtung zu decodieren, einzuordnen oder kritisch zu reflektieren. Aber auch bei Lesern mit Hintergrundwissen werden die überzeichneten Schurken und Nazi-Ableitungen ins Bildgedächtnis aufgenommen und werden Teil des Erinnerns, das durch bestimmte Zeichen und Situationen ausgelöst werden kann. In wie weit dies in solchen Situationen reflektiert wird oder unterschwellig geschieht, ist unklar. Klar ist, dass die Sicht aller auf diesen Themenbereich durch die Ablösung der Attribute und Etablierung bestimmter themenbezogener Typen vom Historisieren zum Emotionalisieren verklärt wird. In: in: Klaus Farin, Ralf Palandt (Hrsg.): Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics. Berlin: Archiv der Jugendkulturen, 2011; 419-427.

Weiße Mythologie. Urs Widmers "Buch des Vaters" und das metaleptische Erbe der Literatur

ZfdPH 4/2020, 2020

WEIßE MYTHOLOGIE Urs Widmers "Buch des Vaters" und das metaleptische Erbe der Literatur von Martin R o u s s e l , Köln Mein Vater kann die Gesichter in Sekundenschnelle von jung auf uralt wechseln. Ich bin zwar tot, sagt er dann, aber heute habe ich Ausgang. Urs Widmer, "Vom Fenster meines Hauses aus" 1 Schriftsteller, Dichter gar, sind Menschen ohne Macht. Die Macht des Wortes, von der man zuweilen spricht, ist eher eine Hoffnung oder ein Trost als etwas Wirkliches.

’...über den Sprachen ist die Sprache’: Mythogene narrative Strukturen in Thomas Manns Roman Der Erwählte

Weimarer Beiträge, 42.2 (1996), pp. 207-230

Die Herzogin Sibylla steht kurz vor ihrer Vermählung mit ihrem Sohn Grigorß. Da verspürt sie den Drang, wieder auf der Burg Belrapeire, der Stätte ihrer jugendlichen, inzestuösen Beziehung zu ihrem Bruder, Hof zu halten. Der Erzähler Clemens kommentiert dieses Bedürfnis der Landesherrin mit den Worten allen ist uns der Wunsch eingelegt, in das Gewesene heimzukehren und es zu wiederholen, damit es, wenn es unselig war, nun selig sei. 2 Die zitierte Textstelle erschöpft sich jedoch nicht in ihrem Bezug auf Sibyllas unbewußte Sehnsucht nach dem Ort ihrer ersten inzestuösen Sünde, sondern ist von exemplarischer Bedeutung für den gesamten Roman: Dieser Aussage der Erzählerfigur kommt eine Schlüsselfunktion für das Textverständnis zu, da in ihr zentrale Motive des Romans angesprochen werden. Das Augenmerk des Lesers wird hier zum einen auf die Seligkeit gelenkt, nach deren Erlangung Sibylla und vor allem ihr Sohn streben, und zum anderen wird die Wiederholung thematisiert, die den Text so offensichtlich strukturiert. Beide Aspekte werden nicht umsonst eng miteinander in Verbindung gebracht: Erst durch die Wiederholung von Sünde und Buße wird die erlösende Seligkeit möglich; überspitzt könnte man sagen, daß die Wiederholung selbst den Weg zur Seligkeit vorzeichnet. Die Signifikanz der Wiederholung -und dies ist eine weniger auffällige Tatsache -beschränkt sich aber nicht auf rein inhaltliche Repetitionen wie z.B. die jeweils mehrfach erfolgende Blutschande, Bestrafung der Sünder sowie ihre Begnadigung. Vielmehr hat die Wiederholung auch eine zeitliche Dimension, da sie an Vergangenes anknüpft, Entscheidungen, die in der Gegenwart zu treffen sind, beeinflußt, und somit die Zukunft mitbestimmt. Diese Zeitlichkeit der Wiederholung impliziert nun ein Paradoxon, das sich erst auf den zweiten Blick als solches offenbart: Wie sollte es möglich sein, in das Gewesene heimzukehren und es zu wiederholen, wie Clemens formuliert, wenn das 'Gewesene' doch eindeutig, irreversibel vorbei und dem Menschen daher nicht mehr zugänglich ist? Wie kann dieses zu Wiederholende motiviert sein durch die Absicht, es zu wiederholen, damit es, wenn es unselig war, nun selig sei, ein Wunsch, der -logisch betrachtet -auf eine nachträgliche Veränderung eines bereits Geschehenen hinausliefe? Eine rein psychoanalytische Sichtweise, die einen unbewußten Wiederholungszwang eines als traumatisch erlebten Geschehens postulierte, befriedigt hier nicht, denn sie könnte zwar die sexuelle Anziehungskraft, die Mutter und Sohn füreinander empfinden, erklären helfen, nicht jedoch das für den Erwählten insgesamt charakteristische, deutliche Spiel mit Wiederholungen und zeitlichen Dimensionen. Daß in diesem Roman die normale Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft häufig verwischt wird, hat eine entscheidende narrative Funktion: Es ermöglicht die Mythisierung des Erzählten, die -so meine These -ohne eine zeitliche Entgrenzung des Geschehens nicht realisierbar ist. Welche Strategien der Mythisierung werden im Erwählten angewandt? Auf diese Frage hat die Forschung bisher hauptsächlich inhaltlich-motivisch sowie sprachästhetisch geantwortet. Natürlich liegt es auch nah, auf die stoffliche Anlehnung an Hartmann von Aues Versepos Gregorius auf dem Stein zu verweisen, um allein schon aufgrund der Gestaltung des alten Legendenstoffs die Sagenhaftigkeit von Manns Erzählung hervorzuheben. 3 Die Bedeutung der aus mehreren europäischen Sprachen und Sprachepochen geschaffenen artifiziellen Mischsprache des Romans für den mythischen Charakter des Erwählten wird beispielsweise von Ruprecht Wimmer betont, der den internationalen Charakter von Stoff und Sprache, der ein universelles Mittelalter evoziert, hervorhebt und auch auf die Entzeitlichung des Deutschen durch die Nebeneinanderstellung verschiedener sprachlicher Entwicklungsstufen hinweist. 4 Diese Entzeitlichung betrifft jedoch nicht nur die Ebene der sprachlichen Gestaltung, sondern reicht in alle Ebenen des Textes hinein. Sie ist es, die einen entscheidenden Beitrag zur Mythisierung des Erzählten leistet, ja ohne sie erschließt sich das mythische Potential dieses Romans gar nicht gänzlich, denn der mythische Text bedarf einer anderen Konzeption von Zeit als der nicht-mythische.

Zwischen Politisierung und Ästhetisierung – Der Tod Benno Ohnesorgs in den Romanen Uwe Timms

Die Gewalt der Zeichen. Terrorismus als symbolisches Phänomen, 2012

Das Foto des sterbenden Benno Ohnesorgs gilt als Urszene der sich radikalisierenden Studentenbewegung. Als symbolisches Ereignis zog es nicht nur die weltweite Aufmerksamkeit der Medien auf sich, sondern gehört zu jenem Arsenal sinnlich-bildhafter Partikel, die den ,Mythos 68' im kollektiven Gedächtnis konstituieren. Im literarischen Werk von Uwe Timm, das sich wesentlich mit dem politischen Aktivismus jener Zeit auseinandersetzt, bildet die Sterbeszene Ohnesorgs vom ersten Roman an ein zentrales Motiv. Damit stehen seine Bücher exemplarisch für jüngere Erzähltexte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die bei der literarischen Behandlung von Studentenbewegung und RAF-Terrorismus immer wieder auf solche Medienereignisse Bezug nehmen. Während Timms Romanerstling »Heißer Sommer« die geschichtlich-politische Bedeu-tung des Ereignisses fokussiert, lässt sich in späteren Romanen eine verstärkte Hinwendung zu dessen symbolisch-ästhetischen Potential erkennen. Ausgehend von der kulturwissenschaftlichen Mythosforschung möchte der Beitrag diese Entwicklung im Spannungsfeld von Literatur, Politik und kultureller Erinnerung erhellen.