Matthias Schmidt: Eingebildete Musik. Richard Wagner, das jüdische Wien und die Ästhetik der Moderne, München: edition text + kritik 2019 (original) (raw)

2020, wagnerspectrum 16, no. 1 (2020): 266-70

Abhandlung hält, was der Titel verspricht: Sie entwirft ein breites Panorama, das Richard Wagners Schriften sowie dessen Musik, die Wiener Moderne, den ansteigenden Antisemitismus nach 1850 und ästhetische Reflexionen systematisch miteinander koppelt. Die Verbindung dieser Thematiken ist zweifelsfrei ein ehrgeiziges Unterfangen, zumal damit Bereiche erfasst werden, die separat bereits eingehend untersucht wurden und werden: Wagners Das Judenthum in der Musik, die historische Einbettung und Rezeption dieses Pamphlets, die ästhetische Diskussion um Wagners Schaffen und die Semantik der ‚Tonkunst', das Verhältnis jüdischer Musiker zu Wagners Schaffen, die Nationalisierung und Germanisierung des Musikdiskurses, die (für Steven Beller inhärent jüdische) Wiener Moderne, 1 etc. Was die vorliegende Abhandlung auszeichnet, ist folglich weniger das Thema selbst als die differenziert aufgezeigten Berührungspunkte, Überschneidungen und diskursiven Netzwerke zwischen diesen Themen, denen Schmidt detail-und erfolgreich nachspürt. Diesbezüglich stechen primär die Einleitung und das 1. Kapitel hervor (S. 9-80), die auf beeindruckendem Reflexionsniveau einen Problemaufriss bieten, der die Ebenen dieses Buches zuerst einmal abstrakt verzahnt. Als Beispiel für die gelungene Integration von scheinbar disparaten Bereichen sei Schmidts Analyse des jüdischen Bilderverbots angeführt, das Wagner zum Beweis der Unzulänglichkeit ihrer Einbildungskraft und zur Erklärung der mangelnden ‚Innerlichkeit' ihrer Musik nutzt (S. 23-26). Eine ästhetische Beurteilung -die für ihn imitative Banalität der jüdischen ‚Tonkunst', die selbst als diskursives Konstrukt anzusehen ist, das in der Wirklichkeit keine Entsprechung findet -wurde von Wagner somit aus einer durch das Bilderverbot notwendig begrenzten Phantasie abgeleitet, die ‚jüdische' und ‚deutsche' Musik im Wesen trennt (siehe dazu auch S. 118-120). Für Schmidt ist hierbei zentral, dass Argumente wie diese für Wagners antisemitische Ressentiments schlechtweg repräsentativ sind und das Motiv von Wagners Pamphlet als grundlegend ästhetisch interpretiert werden müsste: "Wagners Judenthum-Schrift wird in der Forschung nahezu durchgängig zuerst politisch gedeutet. Dabei ist ihr springender Punkt ein ästhetischer" (S. 23). Dieser innovative Ansatz, der zur Vernetzung der titelgebenden Schwerpunkte essentiell beisteuert, führt dann auch zur methodischen Konzentration auf ideengeschichtliche und sozialgeschichtliche Problemstellungen, die realpolitische Bedingungen relativ selten systematisch einbeziehen. 2 Schmidts Beispiele, die den Zusammenhang von Antisemitismus, Musik(ästhetik) und jüdischer Identität im Rahmen der Wiener Moderne exemplarisch verdeutlichen, scheinen aus mehreren Gründen geschickt gewählt: 1 Rethinking Vienna 1900, hrsg. von Steven Beller (Austrian History, Culture, and Society 3), New York / Oxford 2001, S. 9. 2 Der frühere liberale Politiker Karl Lueger, der mit der antisemitischen Christlichsozialen Partei die Wiener Politik über Jahrzehnte bestimmte und von 1897 bis 1910 Bürgermeister war, wird etwa nur nebenbei erwähnt (S. 70f.). (1) Eduard Hanslick (S. 81-157), Carl Goldmark (S. 159-234) und Arnold Schönberg (S. 235-285) umspannen ein bestimmtes Zeitfenster, das von Wagners Pamphlet bis ins 20. Jahrhundert reicht und damit die geschichtlich differenzierte Beschreibung der analysierten Phänomene sowie deren komplexer Entwicklung ermöglicht. (2) Alle drei Personen weisen weiters eine zeittypisch schwierige Beziehung zur jeweiligen jüdischen Identität und (mit Blick auf Goldmark und Hanslick, die um 1845 aus Keszthely und Prag nach Wien migrierten) ethnischen Hintergrund auf. Im Kontext des Habsburgischen Vielvölkerreichs traten sie damit nicht einzig zu Wagners Begriff des ‚Jüdischen' sondern ebenso zu dem des ‚Deutschen' in ein komplexes Verhältnis, das vielfältige Strategien der Identitätskonstruktion nach sich zog. 3 (3) Zuletzt sprechen auch pragmatische Überlegungen für die typologische Untersuchung gerade dieser Personen. Während Schönberg bei diesem Thema als Fixstern fungiert, werden Hanslick und Goldmark im Hinblick auf die kulturellen und religiösen Kontexte ihres Schaffens rezent immer intensiver erforscht, wie etwa der Band Rethinking Hanslick (2013) und Brodbecks Defining ‚Deutschtum' anschaulich nachweisen. 4 Zur Hanslick-Forschung -die für mich persönlich besonders interessant ist -hat die vorliegende Monographie ebenfalls wertvolle Erkenntnisse beigesteuert. Dies betrifft speziell Schmidts Analyse von Eduard Hanslicks Essay "Ueber Religionsverschiedenheit" (Wiener Zeitung, 25. und 26.10.1848), den man in der Literatur oft als Plädoyer für die gesetzmäßige Gleichstellung der Juden begriff. Doch wenn Hanslick die fehlende staatliche Anerkennung der Juden als "schreiende wie borni[e]rte Ungerechtigkeit" charakterisiert, ist dieser