How to take care of the plants that feed the world? Zur Versammlung naturkultureller Zukünfte in Saatgutbanken (original) (raw)
Vortrag zur Ad Hoc Gruppe "Die ökologische Gesellschaft unter Spannung: Sorgediskurse im 'Anthropozän'" beim 40. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie "Gesellschaft unter Spannung", 2020
Abstract
Im Zuge westlicher Entwicklungspolitik wurde Mitte des 20. Jahrhunderts in einigen Ländern des Globalen Südens eine landwirtschaftliche Modernisierungsoffensive durchgeführt, die als „grüne Revolution“ bekannt wurde. Durch Industrialisierung und Homogenisierung sollten die landwirtschaftliche Produktion angekurbelt und globale Ernährungssicherheit hergestellt werden. Diese Entwicklung leistete allerdings auch einem Verlust pflanzengenetischer Vielfalt Vorschub, der bald zum globalen ökologischen Problem deklariert wurde. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) erhob daraufhin die Konservierung von Agrobiodiversität in Saatgutbanken zu ihrer Kernstrategie gegen die sogenannte „genetische Erosion“. Im Zentrum meines Vortrags steht die internationale Saatgutbank auf der arktischen Insel Spitzbergen, die ich als Knotenpunkt der globalen Anstrengungen zur Verfügbarmachung landwirtschaftlicher Nutzpflanzenvielfalt und damit zur Gewährleistung globaler Ernährungssicherheit in der Zukunft begreife und erforsche. Sie unterscheidet sich von anderen Saatgutbanken dadurch, dass sie als Backup-Speicher für Sicherheitskopien des in den Genbanken der Welt konservierten Saatguts dient. Im „ewigen Eis“ bewahrt, sollen die als unschätzbar wertvoll geltenden Ressourcen gegen eine Vielzahl von Risiken rückversichert werden, denen die Sammlungen in aller Welt ausgesetzt sind: Erdbeben und Überflutungen, finanzielle Engpässe und Kapazitätsgrenzen sowie nicht zuletzt Kriege. Ein Vertreter der FAO brachte in seinem Vortrag zum diesjährigen 12. Jubiläum des arktischen Saatgutspeichers das fürsorgende Selbstverständnis der Bewahrer*innen der globalen landwirtschaftlichen Biodiversität auf den Punkt: „Taking Care of the Plants that Feed the World”. Dieses Selbstverständnis stelle ich in meinem Vortrag auf der Basis von Expert*inneninterviews und ethnographischer Forschung in Spitzbergen auf den Prüfstand. Dabei geht es im Kern darum, inwiefern Saatgutkonservierung als Praxis der Sorge begriffen werden kann, worauf sich die Sorge- und Konservierungsbemühungen letzten Endes richten und welche performativen Wirkungen dies für un/mögliche Zukünfte hat. Der Analyse zugrunde liegt eine technoökologische Perspektive auf die Frage, wie Relationen zwischen Menschen und ihren nicht-menschlichen Mitwelten in technowissenschaftlichen Praktiken in Kraft gesetzt werden (Lorenz-Meyer et al. 2019). Wie die untrennbar verwobene Geschichte der Gefährdung und Konservierung von Agrobiodiversität veranschaulicht, sind ökologische Probleme, die zur Gefahr für menschliches Leben werden, eng mit der Gefährdung von Ökosystemen durch (bestimmte) menschliche Kultur(en) verwoben. Während Konservierungsmaßnahmen auf den ersten Blick den Eindruck eines reaktiven Unter-Kontrolle-Bringens erwecken, lege ich im Vortrag dar, wie sich in meiner Forschung aufseiten der beteiligten Akteure ein Verständnis für die Verschränktheit von Natur und Kultur und die Performativität von Technologie zeigt. Davon ausgehend argumentiere ich, dass in der Praxis der Saatgutkonservierung ein Verhältnis zu Natur und Zukunft erkennbar wird, das sich im Spannungsfeld zwischen Sorge und Regierung bewegt. Einerseits erscheint die Saatgutbank aufgrund ihrer nicht nur performativen, sondern inhärent politischen Wirksamkeit als ontopolitische Regierungstechnologie (Nimmo 2008); andererseits birgt die Anerkennung der Vulnerabilitäten, die aus der Verwobenheit von Natur und Kultur resultieren, Möglichkeiten einer verantwortungsvollen Gestaltung naturkultureller Zukünfte (Haraway 2018). Durch die Analyse dieses Spannungsverhältnisses soll ein Beitrag zur Schärfung der Begrifflichkeiten des soziologischen Sorgediskurses geleistet werden.
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