J. Heinrichs, Wanderungen versus Genozid. Einheimische Verbände im nordgallischen Raum unter römisch bestimmten Rahmenbedingungen, in: G.A.Lehmann/R. Wiegels (eds.), "Über die Alpen und über den Rhein", Berlin et al. 2015, 133-163, 407-408 (original) (raw)
Einheimische Verbände im nordgallischen Raum unter römisch bestimmten Rahmenbedingungen Für Thomas Fischer (Köln) zum 25.9.2014 Verschiebungen größerer Bevölkerungsgruppen 103/2 v. -15 n. Chr. 1 Sie waren keine Seltenheit.2 Damit einher ging der Zerfall politischer Einheiten und die Entstehung neuer Verbände: Namen verschwanden, andere traten neu hervor, die Menschen überlebten in den meisten Fällen. Genozid im Wortsinn -verstanden als systematische, auf Vollständigkeit zielende physische Eliminierung ganzer Verbände -fand, soweit für uns nachvollziehbar, nicht statt, auch dann nicht, wenn unsere Quellen dies behaupten. Verluste in Schlachten und unter der Zivilbevölkerung dürften allerdings erheblich gewesen sein.3 1 Eine ausführliche, mit Karten, Abbildungen, Tabellen und Literaturhinweisen versehene Darstellung, die in Teilen die hier behandelten Entwicklungen abdeckt, ist jüngst erschienen: Heinrichs 2013. Der leicht erreichbare Text erlaubt es, hier eine Kurzfassung zu geben, um die argumentativen Linien klarer hervortreten zu lassen. -Für Hilfe auf unterschiedlichen Ebenen danke ich U. Klöppel, Aarbergen sowie D. Kossmann und G. Weiler, beide Köln. 2 Wolters 1990, 175 ff.; ders. 2000, 162 ff. 3 Verwiesen sei beispielshalber auf Angaben zu Verlusten der Nervier 57 v. Chr. (Gall. 2.28.1 sq.): prope ad internecionem gente ac nomine Nerviorum redacto … ex sescentis ad tres senatores, ex hominum milibus LX vix ad quingentos qui arma ferre possent sese redactos (Caesar ist vorsichtig genug, dies Gesandten der Nervier in den Mund zu legen; tatsächlich kann sich der Verband 54 am Ambiorix-Aufstand beteiligen -Gall. 5.38.3 -und 52 an der Erhebung des Vercingetorix-ib. 7.75.3) und unter Usipeten/Tenkterern (ib. 4.15.3): (Germani) reliqua fuga desperata magno numero interfecto reliqui se in flumen praecipitaverunt atque ibi timore, lassitudine, vi fluminis oppressi perierunt. nostri ad unum omnes incolumes perpaucis vulneratis ex tanti belli timore, cum hostium numerus capitum quadrigentorum triginta milium fuisset, se in castra receperunt (Caesar behauptet nicht etwa, dass die Gesamtzahl beider germanischer Verbände (430.000) identisch sei mit den Opfern der Schlacht -suggeriert dies aber -, während auf römischer Seite überhaupt niemand fällt). Nimmt man Caesars Zahlen ernst und lässt sich von seiner Sprache beeindrucken, so führt dies unweigerlich zu Problemen, auch an vielen anderen Orten, es sei denn, die gallischen Druiden hätten Erfahrungen mit Drachenzähnen besessen und γηγενέες (A.R. 3.1354 ff.) heraufbeschwören können oder, wie Deukalion (und Pyrrha), andere Arten von Erdgeborenen mit Felsstücken gesät (vgl. Ov. met. 1.260 ff.). Bei der Angabe feindlicher Verluste verdient Caesar umso weniger Glauben, je martialischer seine Sprache wird, nur: im allgemeinen findet er Glauben! Schätzungen der Opfer des gesamten Gallischen Kriegs sind insofern m.E. überhöht, etwa bei Jehne 2008, 70 und Will 1992, 96 ff. Caesar soll hier überhaupt nicht entschuldigt,