„Warum so hart! - sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle: sind wir denn nicht Nah-Verwandte?” NietzschesArgumente gegen den Populismus. In: Acta Germanica 22 Frankfurt Main: Peter Lang (1994): 135-152 (original) (raw)

Immer wieder betont Nietzsche, daß seine Schriften nur für Wenige bestimmt seien, ja daß seine Leser vielleicht noch gar nicht existierten. (AC, 167) Ist das als bloße Attitüde zu verstehen, mit der Nietzsche sich von der Masse seiner Zeitgenossen, dem "Pöbel" absetzt? Diese antipopulistische Haltung war unter den Intellektuellen seiner Zeit gängig, wie etwa das Zitat Flauberts andeutet: "Die Masse, die Zahl ist immer idiotisch" . (Michel 1965, 102). Renate Werner (1978 II, 87f.) meint, daß die elitäre Kunstkritik der literarischen Avantgarde der späten achtziger und beginnenden neunziger Jahre als "oppositive Denkmöglichkeit angesichts der damals in Deutschland erstmals in aller Schärfe zutage tretenden Probleme einer sich etablierenden Industriegesellschaft im Schwange waren, wobei hinzuzufügen ist, daß es sich durchweg um Spielarten einer konservativen, gegen den ideellideologischen wie sozial-institutionellen Prozeß einer allmählichen Demokratisierung gerichteten Kultur-Kritik handelt." Daß die Avantgarde sich dabei auf Nietzsches Polemik gegen die Massen und die Demokratie berief, ist nicht verwunderlich, obwohl ihre Kritik der bürgerlichen Gesellschaft nicht die "Radikalität und Tiefenschärfe" Nietzsches erreichte. (Ebd., 88) Nimmt Nietzsche in seinen polemischen antipopulistischen Sentenzen aber nicht auch scharfsinnig seine Wirkung vorweg? Zumal er ja tatsächlich von seinen deutschen Zeitgenossen und ihren Nachkommen, die seine Philosophie in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen versuchten, mißverstanden wurde, falls er überhaupt gelesen wurde. 1 Allerdings gab es vor dem Faschismus eine kritische und extensive Auseinandersetzung mit Nietzsches Werk: Hugo von Hoffmannsthal, Alfred Döblin, Robert Musil, Thomas und 1Als Hauptvertreter der Präfaschismus-Theorie sei hier Lukács erwähnt, der Nietzsche in dem WerkDie Zerstörung der Vernunft selbst zum Begründer des Nihilismus und der décadence erklärt. Damit unterschlägt er das Ambivalente an Nietzsches décadence-Begriff und setzt ihn in starre Opposition zu seinem klassizistischen ästhetischen Ideal, das er für den Sozialismus zu retten versucht. Obwohl Jost Hermand (148) sich von Lukács distanziert, reagiert er doch irritiert auf marxistische Annäherungen an Nietzsche: Man kann doch nicht Nietzsche einerseits als exquisiten Prosakünstler hochjubeln -und ihn andererseits als gewalttätigen Präfaschisten verdammen [...] Und obendrein: Wer kann sich heute noch ästhetisch an Dingen erfreuen, die durch den Faschismus, die brutalste Terrorherrschaft des 20. Jahrhunderts, total korrumpiert worden sind? Hermand (ebd.) meint, daß Nietzsche junge Leser zu Hochmut, Brutalität, Sexismus, Massenhaß, Arbeiterverachtung und Antidemokratismus verführe, und schlägt Brecht als kulturelles Erbe vor. Dabei unterschlägt er jedoch sexistische Züge bei Brecht. Für eine ausgezeichnete Darstellung der deutschen Nietzsche-Rezeption, siehe Montinari (1979). Heinrich Mann, Gottfried Benn deuten das Ausmaß dieser Rezeption in der deutschen Literatur an. So sieht z.B. Thomas Mann (1978 I, 183) Nietzsche als Sprachkünstler, der der deutschen Prosa ganz neue Dimensionen eröffnete: "Er verlieh der deutschen Prosa eine Sensivität, Kunstleichtigkeit, Schönheit, Schärfe, Musikalität, Akzentuiertheit und Leidenschaft -ganz unerhört bis dahin und von unentrinnbarem Einfluß auf jeden, der nach ihm deutsch zu schreiben sich erkühnte." Eine Neubewertung Nietzsches wurde erst durch die historischkritische Gesamtausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari in den späten sechziger Jahren ermöglicht. Bezeichnenderweise gingen die Impulse dieser Neubewertung nicht von Deutschland, sondern von Frankreich und Italien aus. Hängt das damit zusammen, daß die Franzosen und Italiener nicht in demselben Maße wie die Deutschen von dem Stigma des Faschismus belastet waren, und es sich daher leisten konnten, Nietzsche unbefangener zu lesen, oder damit, daß die Deutschen, wie Nietzsche schon behauptete, nicht genau, d.h. philologisch, zu lesen verstanden? Die philologische Lesart sei ihnen von den Priestern, vor allem Luther, ausgetrieben worden. Haben sich die Voraussetzungen, unter denen Nietzsche verstanden werden kann, also grundlegend verändert, oder hat sich inzwischen eine Gruppe von Lesern herausgebildet, die den Anforderungen Nietzsches genügt? Er nennt folgende geistige und psychologische Voraussetzungen seines idealen Lesers: Man muß rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte, um auch nur meinen Ernst, meine Leidenschaft auszuhalten. Man muß geübt sein, auf Bergen zu leben -das erbärmliche Zeitgeschwätz von Politik und Völker-Selbstsucht unter sich zu sehn. Man muß gleichgültig geworden sein, man muß nie fragen, ob die Wahrheit nützt, ob sie Einem Verhängniss wird… Eine Vorliebe der Stärke für Fragen, zu denen Niemand heute den Muth hat; der Muth zum Verbotenen; die Vorherbestimmung zum Labyrinth. Eine Erfahrung aus sieben Einsamkeiten. Neue Ohren für neue Musik. Neue Augen für das Fernste. Ein neues Gewissen für bisher stumm gebliebene Wahrheiten. Und der Wille zur Ökonomie grossen Stils: seine Kraft, seine Begeisterung beisammen behalten… Die Ehrfurcht vor sich; die Liebe zu sich; die unbedingte Freiheit gegen sich… (AC, 167) Dieses Zitat enthält Nietzsches anti-populistisches Programm als Schriftsteller und "Philosoph" .Er weiß, daß nur ein paar Auserwählte, falls überhaupt jemand, seinen hohen Anforderungen gewachsen sind. Die Selbstsucht dieser Auserwählten, die er zum Gesetz erhebt, unterscheidet sich von der Selbstsucht der Massen, d.h. der Äußerung ihres politischen Willens, dadurch, daß die Auserwählten sich ihr eigenes Gesetz schaffen, dem sie sich dann aber genauso