Zu Ungarns geopolitischer Selbstverortung in Europa (original) (raw)
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Ungarns Selbstperipherisierung in der Europäischen Union: Hintergründe und Aussichten
E. Bos und A. Lorenz (Hrsg.), Das politische System Ungarns, 2021
Die demokratische Vorreiterrolle Ungarns in der Wendezeit und in der Periode der Beitrittskandidatur wich nach 2004 einer zunehmenden „Beitrittsmüdigkeit“ und sinkenden Integrationsbereitschaft. Seit dem erneuten Machtantritt Viktor Orbáns im Jahr 2010 fanden nicht nur fundamentale verfassungs- und innenpolitische Veränderungen statt, sondern Ungarns Beziehungen zur Europäischen Union wandelten sich auch tiefgreifend. Kaum ein anderes Mitglied befindet sich derzeit in der EU in einer so isolierten Lage wie Ungarn, das wegen seiner innenpolitischen Entwicklungen und mangelnden demokratischen Qualität kritisiert wird. In der Befragung ECFR Coalition Explorer stuften 2018 die europäischen Partner das Land als das „enttäuschendste“ ein (Végh 2019). Ungarn änderte seine Rolle von einem „EUphorischen policy taker“ zu einem „pragmatischen Disruptor“ (Heged˝us 2014; Végh 2019). Der vorliegende Beitrag beleuchtet zum einen die Hintergründe der Selbstperipherisierung Ungarns in der EU. Nach einer kurzen Einleitung in die Geschichte seiner EU-Mitgliedschaft rekonstruiert er dafür die Beziehungen zwischen der EU und ihrem ersten „illiberalen“ Mitgliedstaat, der sich von den in den Kopenhagener Kriterien verankerten Grundwerten der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verabschiedet hat. Zum anderen skizziert der Beitrag die Positionen der ungarischen Regierungen in zentralen Politikfeldern der europäischen Integration: Fiskal- und Währungspolitik, Kohäsionspolitik und EU-Haushalt, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und Migration. Ziel ist es, die Selbstperipherisierungstendenzen zu kontextualisieren und einordnen zu können, welche Interessen Ungarn auch in Bereichen verfolgt, die weniger öffentliche Beachtung fanden.
Hybridregime unter externer Kontrolle. Zum Charakter der ungarischen Politik
Osteuropa, 2018
Ungarns politisches System ist weder eine Demokratie noch eine Diktatur. Es handelt sich um ein spezifisches Hybridregime. Die Regierung unter Viktor Orbán hat seit 2010 die Gewaltenteilung, wie sie den liberalen Verfassungsstaat kennzeichnet, weitgehend außer Kraft gesetzt. Allerdings werden die Grundrechte der Bürger in Ungarn bis heute weitgehend gewahrt. Das liegt an Ungarns Einbindung in die Europäische Union und der Mitgliedschaft im Europarat. Die Rolle der EU ist jedoch ambivalent. Ihre Rechtsordnung wirkt dem Aufbau eines autoritären Systems entgegen. Gleichzeitig stabilisieren die Gelder aus den EU-Fonds das Regime in Budapest. Da die EU als Verbund demokratischer Staaten gilt, nutzt Orbán zudem die Mitgliedschaft Ungarns, um sein Regime zu legitimieren.
Der Traum von Eurasien. Ungarns neuheidnisch-esoterisches Staatsprinzip
AIB 142, 2024
(https://antifainfoblatt.de/aib142/ungarn-der-traum-von-eurasien) 2014 deklarierte Viktor Orbán seine Vision der Hinwendung zum Osten. Sie geht auf eine ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition zurück und meint die Hinwendung zum eurasischen Kultur- und Wirtschaftsraum. Ihr Ziel ist die Transformierung der eigenen Gesellschaft und die Neuordnung Europas und der Welt überhaupt. Dies ist eine gegenaufklärerische, gegenemanzipatorische, maskulinisch-hierarchische, menschenfeindliche und rassisierende Position, die sich für eine transnationale ‚Artengemeinschaft‘ ausspricht. Der immer wieder zwanghaft beschworene Hinweis auf die Christlichkeit bedeutet nicht die Religion der Nächstenliebe, sondern ist im Sinne eines ario-christlichen, eurasischen Ahnenkults zu verstehen, in dem selbst Christus zum Propheten des Lichts wird. Der eurasische Ahnenkult mit der skythischen Abstammungsthese wird z. B. in dem Buch beschworen, das 2019 im MCC-Verlag und 2021 in deutscher Übersetzung im Springer Verlag mit dem Titel „Der ungarische Staat“ erschien und in dem unter anderen auch Carl Schmitts politische Theologie zustimmend rezipiert wird.
2021
Ungarn ist ein zentralstaatlich organisiertes Land. Dies ist der Standardtyp territorialer Staatsorganisation auch in Westeuropa, wo jedoch seit den 1970er Jahren zunehmend Dezentralisierungs-und Regionalisierungstendenzen zu verzeichnen waren (da ConceiG cão-Heldt 1998, S. 9). Die Regional-und Strukturpolitik der Europäischen Union setzte zusätzliche Anreize für eine Dezentralisierung, denn der Zugang zu den entsprechenden Finanzquellen, die unter die geteilte Mittelverwaltung fallen, wie z. B. die europäischen Struktur-und Investitionsfonds, ist an eine funktionierende Regionalpolitik und ein funktionierendes institutionelles System gebunden. Sie sollen ihre wirksame Nutzung sicherstellen. Der Beitritt Ungarns zur Europäischen Union war insofern aus sozialwissenschaftlicher Sicht ein interessanter Untersuchungsfall für die Entwicklung politisch-administrativer Institutionen. Was war einflussreicher: Beharrungskräfte des Zentralismus oder Dezentralisierungsprozesse? Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dieser Frage. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Umsetzung von Regionalpolitik und die Ausgestaltung des Verwaltungssystems von der EU nicht vorgegeben sind. Sie können in den Mitgliedstaaten und in den verschiedenen Programmplanungszeiträumen unterschiedlich sein. Diese Unterschiede lassen sich durch das interne System der Regionalpolitik, den Umfang und die Ausrichtung der Programme sowie die Erfahrung bei der Verwaltung der Operationellen Programme erklären (Ferry et al.
Die ungarische Asylpolitik seit 2010 und deren staatspolitische Instrumentalisierung
2020
This Masterthesis deals with the instrumentalization of Hungarian asylum policy (2010-2018). Refugees in Hungary were disenfranchised, criminalized and imprisoned due to stricter asylum laws. The tough asylum policy of the Orbán regime is an instrument to continue the authoritarian developments that started in 2010, i.e. to maintain and expand power. At the end of 2014, the ruling party Fidesz lost some of its popularity. Viktor Orbán discovered the refugee issue and appeared as the savior of the Hungarian people even from Europe. Through a massive negative media campaign, the Orbán regime created a negative, derogatory mood towards refugees. The Orbán regime exploited asylum policy for domestic purposes, so Fidesz once again won with a two-thirds majority in 2018.
Die politische Ökonomie des neuen ungarischen "Sklavengesetzes"
Transnationale Partnerschafts Initiative, 2018
Als das Parlament-kontrolliert von der vierten auf-einanderfolgenden absoluten Fidesz-Mehrheit-in einem schnellen Abstimmungsprozess drei wichtige Gesetze verabschiedet hatte, die von Oppositionspar-teien als rechtswidrig bezeichnet wurden, kam es auf Ungarns Straßen zu spontanen Demonstrationen. Die drei wichtigsten Elemente des Gesetzespakets waren das Überstundengesetz, das schon bald als »Sklaven-gesetz« bezeichnet wurde, die Zentralisierung des No-minierungsverfahrens für Richter und die Änderung im Bildungswesen, die die Privatisierung öffentlicher Universitäten erlaubte. Die parlamentarische Opposition protestierte lautstark; das von ihr aufgenommene Video der Abstimmung verbreitete sich schnell. Nach dem Aufruf eines Abgeordneten, mit einer friedlichen Demonstration auf den Straßen Budapests gegen das rechtswidrige Gesetzgebungsverfahren zu protestie-ren, kam es zu einer Massendemonstration, überwie-gend von Studenten, den Vertretern mehrerer Gewerk-schaften und unterschiedlichen Aktivistengruppen. Schon früher hatte es nach der Verabschiedung wichti-ger Gesetze, die ebenfalls ohne gesellschaftlichen Dialog oder Beratung mit repräsentativen Gruppen vorbe-reitet worden waren, Demonstrationswellen gegeben. Kürzlich richteten sie sich gegen das »Lex CEU«, das Gesetz, mit dem die Central European University aus dem Land vertrieben wird. Ende 2018 wurde das Gesetz durch die Kürzung der Mittel für die Ungarische Aka-demie der Wissenschaften und verschiedene staatliche Universitäten ergänzt. Schon vor dem 12. Dezember und lange vor der Abstimmung hatten Studenten vor dem Parlament für die CEU und die Freiheit der Wissen-schaft demonstriert. Sie bauten auf dem Platz Zelte für eine »freie Universität« auf: einen öffentlichen Raum für selbstorganisierte Vorlesungen und Seminare. Die Tradition der »Freien Universität« geht auf frühere Stu-dentendemonstrationen und Universitätsbesetzungen in den letzten Jahren zurück. Nach der jüngsten Geset-zesänderung solidarisierten sich die Studenten mit den Beschäftigten und organisierten gemeinsam mit den Gewerkschaften die Demonstration. Im Dezember richtete sich die Demonstrationswelle vorwiegend gegen das »Sklavengesetz«, das es Unter-nehmen ermöglicht, von den Arbeitern bis zu 400 Überstunden pro Jahr (früher auf 250 Stunden pro Jahr begrenzt) zu verlangen und die Bezahlung bis zu drei Jahre aufzuschieben. Die Gewerkschaften protestier-ten gegen die neue rechtliche Möglichkeit der Unter-nehmen, die Zahl der Überstunden individuell mit den Beschäftigten ohne gewerkschaftliche Beteiligung aus-zuhandeln. Der Ministerpräsident hat die Reformen öffentlich da-mit verteidigt, sie seien ein Gewinn für die Beschäftig-ten, die bislang wegen der Möglichkeit, Überstunden leisten zu können, im Ausland gearbeitet hätten, denn jetzt könnten sie in Ungarn arbeiten. Staatliche Medien und hochrangige Beamte behaupteten, die Demonst-rationen störten den Frieden der Weihnachtszeit, und verurteilten sie als »unchristlich« oder christenfeind-lich. Eine neue Umfrage von Policy Agenda ergab, dass 85 Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter das Überstundengesetz ablehnen. Die neue Änderung des Arbeitsrechts ist nur eine in einer ganzen Reihe von Reformen seit dem Amtsantritt der Regierung 2010. Den Trend zur Flexibilisierung des ungarischen Arbeitsmarkts gab es praktisch unabhän-gig von der jeweiligen Regierung seit 1990. Den libera-len, sozialistischen und ultrakonservativen Regierungen war die Bereitschaft gemeinsam, multinationale Unter-nehmen dazu zu bewegen, im Land zu investieren. An-gesichts einer sehr hohen Arbeitslosigkeit und der ent-sprechend großen Zahl an verfügbaren Arbeitskräften-historische Altlasten aus der ökonomischen Schock-therapie in den 1990er Jahren-war die Einführung verschiedener neoliberaler Arbeitsrechtsreformen seit 1990 relativ unumstritten.