Verteilung und Gerechtigkeit: Philosophische Perspektiven (Distribution and Justice: Philosophical Perspectives) (original) (raw)
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Die distributive Gerechtigkeit bei Platon und Aristoteles
ZfP, 2010
Gerechtigkeit ist der zentrale Begriff der zeitgenössischen politischen Philosophie. Innerhalb dieser werden die Entwürfe von John Rawls und Michael Walzer zumeist als die bedeutendsten Gerechtigkeitstheorien angesehen. Rawls versucht in seiner 1971 erschienenen Theorie der Gerechtigkeit nachzuweisen, dass sich freie und rationale Personen in einer »ursprünglichen Vertragssituation« für zwei Gerechtigkeitsgrundsätze entscheiden würden. Ihm zufolge entsprechen diese beiden Grundsätze »unseren wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen« und erlauben eine moralische Beurteilung von bestehenden gesellschaftlichen Institutionen. 1 Michael Walzer wendet in seiner 1983 publizierten Sphärentheorie der Gerechtigkeit gegen Rawls ein, dass in jeder modernen Gesellschaft die unterschiedlichsten Güter in einer Vielzahl von relativ eigenständigen Sphären verteilt werden. Deshalb könnten die verschiedenen Verteilungen unmöglich durch lediglich zwei Gerechtigkeitsgrundsätze gerecht geregelt werden. Vielmehr müssten die verschiedenen Verteilungssphären klar gegeneinander abgegrenzt und alle Güter gemäß ihren gesellschaftlichen Bedeutungen sowie den spezifischen Kriterien und Maßstäben ihrer je eigenen Sphäre zugeteilt werden. So sind etwa medizinische Leistungen an Kranke gemäß der Behandlungsbedürftigkeit, politische Ämter an Kandidaten nach der Qualifikation und gesellschaftliche Anerkennung entsprechend dem individuellen Verdienst zu vergeben. 2 Im Zentrum der Gerechtigkeitstheorien von Rawls und Walzer steht der Begriff der Verteilungsgerechtigkeit. Weil Walzer die menschliche Gesellschaft im wesentlichen als eine »Verteilungsgemeinschaft« begreift, stellt er die »Idee der distributiven Gerechtigkeit« in den Mittelpunkt seiner Theorie. 3 Rawls begreift die Gesellschaft als eine Kooperationsgemeinschaft, deren zentraler Konflikt sich um die Verteilung der Güter dreht, die durch die Zusammenarbeit erzeugt werden. Dementsprechend ist der primäre Ge
2015
In diesem Artikel wird die Entwicklung der Idee der distributiven Gerechtigkeit von ihren aristotelischen Anfängen bis in die Gegenwart nachgezeichnet. Dabei wird gegenüber dem aristotelischen Paradigma die strukturelle Neuartigkeit des modernen Verständnisses der distributiven Gerechtigkeit als einer Form der sozialen Gerechtigkeit herausgestellt. Die aristotelische Einteilung Aristoteles unterscheidet im fünften Buch der Nikomachischen Ethik (NE) zwischen der Gerechtigkeit in einem allgemeinen und in einem speziellen Sinn, wobei letztere noch einmal in die austeilende und die ausgleichende Gerechtigkeit unterteilt wird. Die Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn besteht in der Fähigkeit und Bereitschaft zum Handeln in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Polis und wird gelegentlich auch ‚Gesetzesgerechtigkeit' genannt. ‚Gesetz' (nomos) ist bei Aristoteles in einem weiten über das Juridische hinausgehenden Sinn zu verstehen und schließt alle sozialen Regeln ein, von denen Aristoteles annimmt, dass sie in einer wohlgeordneten Polis zum tugendhaften und damit ethisch richtigen Handeln anleiten. (Vgl. NE 1129b-1130a u. Kraut 2002, Kap. 4.5) Die Gerechtigkeit im speziellen Sinn bezieht sich auf Güterverteilungen und ihr allgemeines Kriterium ist die Gleichheit. Als ungerecht gilt nach Aristoteles, wer ‚mehr haben will' und eine ‚Einstellung der Ungleichheit' hat. Gerecht handelt dagegen, wer anderen nicht um des eigenen Vorteils willen oder wegen der Lust daran, mehr zu haben als diese (pleonexia), Güter vorenthält oder entwendet, die ihm unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit nicht zustehen. (NE 1129a-1130b) Die Gerechtigkeit im speziellen Sinn unterteilt sich in die ‚austeilende' und die ‚ausgleichende' Gerechtigkeit. Erstere befasst sich mit der Güterverteilung an Bürger, letztere mit dem freiwilligen und unfreiwilligen Austausch von Gütern unter Bürgern. In den Anwendungsbereich der austeilenden Gerechtigkeit fällt bei Aristoteles die Vergabe von politischen Ämtern und Ehren, aber auch die Verteilung von Kriegsbeute, Ländereien und Tri-
Vorwort : Christentum und Theologie zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit
Bamberger theologische Studien, 2023
Christentum und christliches Ethos sind zweifelsohne prinzipiell darauf angelegt, einer gerechteren Welt zum Durchbruch zu verhelfen und für mehr Gerechtigkeit in der Welt einzutreten. Im Alten Testament stellt die Kritik an sozialer Ungerechtigkeit einen der Schwerpunkte prophetischer Rede dar. Im Neuen Testament ist es Paulus, der den Begriff der Gerechtigkeit theologisch spezifiziert, und in den Evangelien ist es die Reich-Gottes-Verkündigung und-praxis Jesu, an der es abzulesen gilt, was gerecht und was ungerecht ist. Auch in der Geschichte des Christentums finden sich zahlreiche Punkte, an denen sich Christ:innen und Theolog:innen gegen die herrschende hegemoniale Moral für eine gerechtere Welt einsetzten. Zugleich ist die heutige Welt von bleibender Ungerechtigkeit und Ungleichheit geprägt: • Laut Welthunger-Index 2022 litten im Jahr 2021 bis zu 828 Millionen Menschen an Hunger. Zu einer Verschlimmerung tragen die »Hungertreiber Konflikte, Klimakrise und COVID-19« 1 maßgeblich bei. In der Konsequenz des Krieges gegen die Ukraine stiegen und steigen die Preise für Nahrungsmittel, Energie und Düngemittel. Dies wird den Hunger auch 2023 voraussichtlich weiter verschärfen. Der Prozentsatz derjenigen Menschen, die keinen regelmäßigen Zugang zu Kalorien in ausreichendem Maße besitzen, nimmt aktuell weiter zu. 2 »Diese Krisen kommen zu den strukturellen Ursachen des Hungers wie Armut, Ungleichheit, mangelhafte Regierungsführung und Infrastruktur sowie
Nach Jacques Derrida und Niklas Luhmann: Zur (Un-)Möglichkeit einer Gesellschaftstheorie der Gerechtigkeit, 2008
Jacques Derrida und Niklas Luhmann haben der law-and-society-community zwar eine reiche Theorie-Erbschaft hinterlassen, aber ihr zugleich hohe Nachlassschulden aufgebürdet. 1 Deren wahres Ausmaß wird erst heute sichtbar. Besonders die langfristigen Hypotheken, die Derrida und Luhmann mit ihren Paradoxologien dem Recht auferlegt haben, belasten die heutige Grundlagendiskussion. Nur eher von kurzer Dauer waren dagegen die Befürchtungen, Systemtheorie und Dekonstruktion verpflichteten die Rechtstheorie darauf, das Rechtssubjekt aus dem Zentrum der Rechtsdogmatik zu verdrängen. Ebenso die Ängste vor einem poststrukturalistischen Rechtsnihilismus vor den Toren der Jurisprudenz. Inzwischen dürfte geklärt sein, dass beide Theorien nicht zur Destruktion, sondern zum Aufbau eines äußerst komplexen Konzepts der Rechts Subjektivität verpflichten. Und wenn Derrida und Luhmann auf verschiedenen Wegen das Irrationale im Recht, den Wahnsinn rechtlicher Entscheidung, aufgedeckt haben, bedeutet dies nicht, dass sie nun das Recht von seiner Gerechtigkeitsschuld befreit haben, sondern im Gegenteil, daß sie die Forderungen der Gerechtigkeit an das Recht auf ein ungeahntes Niveau hochgeschraubt haben. Doch was die Erblast so schwer macht, ist, daß die Empfehlungen zur Schuldentilgung extrem divergieren. Zwar endarven das dekonstruktive wie das systemische Denken gleichsinnig die Geltungsgrundlagen des Recht als grandiose Paradoxien. In der Dekonstruktion erscheint Recht als zirkulär nur auf sich selbst gegründet, auf dem willkürlichen Anfang einer gewalttätigen Unterscheidung, auf der "fondation mystique de l'autorité". In systemtheoretischer Sicht wird die Normenhierarchie des Rechts zu einer "tangled hierarchy", wird die Geltung des Rechts zu einer zirkulären Beziehung zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung. Ihre Perspektiven zur Rekonstruktion des Rechts
Perspektiven der Gerechtigkeitsforschung - zwischen „Sollen” und „Sein”
Soziologische Revue, 2003
Gerechtigkeit hat wieder Konjunktur. Das ist nicht nur auf den ersten Blick verblüffend. So meldet die Armuts-, Ungleichheits-und Bildungssoziologie stichhaltige Belege für die wachsenden Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaft, während sich die gesellschaftlichen Eliten im Grunde einig sind, dass das System der sozialen Sicherungen in seiner überkommenen Gestalt nicht mehr finanzierbar ist und in Richtung auf mehr Eigenverantwortung und Marktsteuerung umgebaut werden muss, was zu weiteren, bislang ungekannten sozialen Härten in Deutschland führen wird. In dieser Situation erscheint es von besonderem Interesse, normative und empirische Perspektiven der Gerechtigkeitsdiskussionen im Sinne einer interdisziplinären Gerechtigkeitsforschung miteinander zu verknüpfen. Überblickt man jedoch die (inter-)disziplinären Forschungen zum Thema Gerechtigkeit, so lassen sich drei thematische Hauptstränge unterscheiden, die nach wie vor relativ isoliert voneinander diskutiert werden: Der erste Diskussionsstrang setzt bei den Verteilungsordnungen oder-prinzipien an und fragt grundsätzlich danach, wie eine soziale gerechte Verteilung aussehen könnte. Da es um die normative Begründung sozialer Gerechtigkeitskonzeptionen geht, wird dieser Diskurs vor allem innerhalb der Philosophie ausgetragen. Er hat natürlich insbesondere durch die Gerechtigkeitstheorie John Rawls und ihrer Kontrahenten wichtige Impulse erhalten.