1991 „’Doch die am ärgsten brennen / Haben keinen, der drum weint.’ Die Verleugnung der Emotion in den frühen Gedichten Brechts” .In: Brecht Yearbook 16 (), p. 2-23 (original) (raw)

Die Armut des Denkens. Anmerkungen zu Benjamin und Brecht

in "'Um Abschied geht es ja nun.' Exil und kein Ende", hrsg. von Hermann Haarmann und Matthias Bormuth, Marburg, 2015, 2015

Die kapitalistische Moderne ist, mit Marx gegengelesen, ein Zustand, in dem der intellektuelle Reichtum als eine ungeheure Meinungssammlung erscheint, die einzelne Meinungsware als seine Elementarform. Wenn nun der Reichtum an Meinungen mit der Armut an mitteilbaren "Menschheitserfahrungen" und materiellen Subsistenzmitteln koinzidiert, reicht es nicht, der Vielzahl von Meinungen eine andere kritische, auf ihre Art dennoch warenförmig verwertbare Meinung hinzuzustellen. Vielmehr geht es um das Ausstellen einer Leere – einer unterbrechenden Haltung, die in der ihr aufgezwungenen Armut ihre stärkste Waffe erblickt. "Knapp an die knappe Wirklichkeit heran" – so lautet Benjamins Formel der Brechtschen Figur des "Herrn Keuner". Der dialektische Umschlagpunkt liegt in der kapitalistisch aufgezwungen Armut selbst. Benjamins materialistische Wette lautete in den frühen 1930er Jahren, daß sich in Radikalisierung geistiger und materieller Armut eine Asymmetrie in die planmäßig kapitalistische Dialektik von privatem Reichtum und gesellschaftlicher Armut eintragen läßt. Denn was durch den verschwenderischen Haushalt des satten und gesättigten Denkens des Bürgers noch hindurchdringt, wird von einer komplizierenden "Schlammflut der Antworten" ertränkt und dergestalt neutralisiert. Die Liquidierung dieser Schlammflut wäre der verflüssigende Abbau eines solchen reichhaltigen Denkens, auf daß es klar und durchsichtig werde, um die "Haltung" des Sprechenden durchscheinen zu lassen.

Die dramaturgische Funktion der Lieder in Brechts Mutter Courage und ihre Kinder

Otago German Studies, 1980

Die auffallende Tendenz Brechts, dem Lied in seinem dramatischen Schaffen einen besonderen Platz einzuraumen, ist heute bereits allgemein bekannt und wird vielfach sogar als ein Charakteristikum der Brechtschen StUcke gesehen. DaB Brecht dabei auf eine lange und nicht nur im Wiener Volkstheater wohl etablierte Tradition zuriickgreifen kann und damit fiir die Geschichte des deutschsprachigen Dramas keine Innovation leistete, braucht trotz gelegentlicher Unsicherheiten 1 kaum noch erortert zu werden. Das bewuBt angewendete dramaturgische Prinzip jedoch, durch die Lieder die Handlung zu verfremden und den Gestus des Zeigens zu betonen, war in seiner BewuBtheit und Radikalitat neu und ist von den Kritikern auch immer so gewertet worden. Walter Benjamin weist bereits in der ersten Fassung seiner Studie Was ist episches Theater? (geschrieben 1931/32) auf diese wichtige Funktion der Lieder fiir das Brechtsche Theater hin: Gesten erhalten wir urn so mehr, je haufiger wir einen Handelnden unterbrechen. Fiir das epische Theater steht daher die Unterbrechung der Handlung im Vordergrunde. In ihr besteht die formale Leistung der Brechtschen Songs mit ihren riiden, herzzerreiBenden Refrains. Ohne der schwierigen Untersuchung tiber die Funktion des Textes im epischen Theater vorzugreifen, kann festgestellt werden, daB seine Hauptfunktion in gewissen Fallen darin besteht, die Handlung-weit entfernt, sie zu illustrieren oder zu fordern,-zu unterbrechen. Und zwar nicht nur die Handlung eines Partners, sondern genauso die eigene.2 Die Unterbrechung der Handlung durch den 'Song', der auBerhalb der Handlung stehe, trage wesentlich dazu bei, nicht so sehr Handlung, als vielmehr Zustande darzustellen. Diese Einsicht, die Benjamin 1932 aufgrund des bis dahin vorliegenden •Materials moglich war, wird 1959 im wesentlichen von Reinhold Grimm bestatigt: Sie (die Songs, Anm. Verf.) sind eines der Hauptmittel der Verfremdung. Ihre Wirkung beruht auf dem Wechsel der Form, wie er auch fiir den Obergang von der Prosa zum Vers gilt.3

1978 „Die Wahrheit ist konkret. Bertolt Brechts Maßnahme und die Frage der Parteidisziplin.” In: Brecht-Jahrbuch. Frankfurt/Main: Suhrkamp: S.49-61

Während die »künstlerisch bedeutenden« Dramen aus Brechts Spätzeit bei entsprechend oberflächlicher und abstrakter »allgemein menschlicher« Behandlung fast ohne Hinweis auf ihren kommunistischen Gehalt besprochen werden können, konnte man sich der Maßnahme bisher nur dadurch erwehren, daß man »dieses Produkt einer vulgärmarxistischen Übergangsphase im Denken und Schaffen Brechts« 1 möglichst, »wegen formaler Minderwertigkeit des Textes« (M 240), 2 weder aufführt noch bespricht. Wenn man im Zusammenhang einer Gesamtanalyse der Werke Brechts nicht umhin kann, das Stück, das Brecht selbst »für die Form des Theaters der Zukunft« 4 hielt, wenigstens zu erwähnen, spricht man abschätzig von »Massendrill« und behauptet wie Bjørn Ekmann im Widerspruch zu aller dokumentarischen Evidenz: »Wie alle anderen Werke dieser Schaffensphase spiegelt die Maßnahme Brechts eigene Gefühle [!] -und seine Schwierigkeiten -beim Übertritt zum Kommunismus; die Freude des Einsamen [!], einer Massenbewegung anzugehören; die plötzliche Heilsgewißheit des Verzweifelten [!]; die selbstquälerische Befriedigung des Querulanten [!], der sich der eisernen Parteizucht unterwirft; der leise bohrende -und um so lauter übertönte -Zweifel des unerbittlichen Moralkritikers, der sich neuerdings zur Zweckmoral bekennt.« 5 Obwohl Brecht seine Lehrstücke als »eine kollektive Kunstübung« sah, die der Selbstverständigung derjenigen dient, die sich daran aktiv beteiligen, 6 obwohl er ein Kollektiv, das nur auf Gehorsam beruht, ausdrücklich ein falsches, schlechtes Kollektiv genannt (17, 951), Gehorsam als Folge der Undiszipliniertheit der modernen Gesellschaft gekennzeichnet hat (12, 534), sieht auch Martin Esslin in den Lehrstücken Anklänge an den »preußischen Soldatendrill« und »Lobgesänge auf Disziplin und Selbstaufopferung« und schreibt: »Der Nihilist Brecht war ja eben gerade von Sehnsucht nach einer sinnlosen Autorität erfüllt; was er brauchte, war Disziplin und Glaube -credo quia absurdum.« 7 Daß Brecht unter Disziplin gerade nicht »stalinistischen Kadavergehorsam«, 8 sondern die Grundlage der Freiheit verstand, hindert auch Herbert Lüthy nicht, Brechts Thema in der Maßnahme wie folgt zu definieren: Brecht gehe es »mit besessener Ausschließlichkeit einzig [um] die Disziplin als Selbstzweck, die strenge, bürokratische, jeder menschlichen oder moralischen Rücksicht bare Machttechnik dieses Ordens« (M 418); gerade weil Brecht, nach Lüthys Meinung, die Auswechselbarkeit von »Rotfrontkämpferbund und SA« (M 419) ausgezeichnet belegt, sei es ihm auch gelungen, »das bedeutendste, wenn nicht einzige bolschewistische Drama zu schreiben« (M 410). Ruth Fischer sieht die Maßnahme als Zusammenfassung aller »terroristischen Züge zu einem Spiegelbild der totalitären Partei und ihrer Elite, der NKWD«, als »Parabel, die die Vernichtung der Parteiopposition darstellt«, und als »Vorwegnahme der Moskauer Prozesse «; 9 ähnlich behauptet Esslin: »Die Maßnahme, 1930 entstanden, nimmt in allen Einzelheiten und mit erstaunlicher Genauigkeit die großen politischen Prozesse der stalinistischen Ara vorweg. Acht Jahre bevor Bucharin vor seinen Richtern sich im Interesse der Partei mit seiner eigenen Hinrichtung einverstanden erklärte, hatte Brecht diesem heroischen Akt der Selbstaufopferung eines Kommunisten tragischen dichterischen Ausdruck gegeben.« 10 Willy Haas verstieg sich sogar zu der eindeutig falschen Aussage: »Die Maßnahme war das erste Stück von Brecht, welches die vollständigste offizielle Zustimmung der Partei der Stalinisten fand.« 11 Wahr ist vielmehr, daß die Aufführung der Maßnahme in der Partei eine sehr kritische Aufnahme fand; kommunistische Kritiker meldeten ernste Bedenken an (vgl. M 354, 359, 365, 371 f.) und waren höchstens zu einer stark eingeschränkten Zustimmung bereit. 12 Eine Woche nach der Premiere fand eine Diskussion des Stücks statt, über die ein Teilnehmer berichtet: »Die Diskussion konzentrierte sich hauptsächlich auf die Tötung dieses Genossen, und vor allem wollten die Kommunisten nicht zugeben, daß dies kommunistische Praxis ist. Der kommunistische Weg sei der Ausschluß aus der Partei, nicht aber die Tötung eines Genossen. Dies glaubte der Vorsitzende -ich glaube, es war Wittfogel -entkräften zu müssen, indem er behauptete, der physische Tod sei für den Genossen selbst (oder besser: für jeden politischen Menschen) nicht so tragisch wie der Ausschluß.« Man bestätigte Brecht: »überall, wo revolutionäre Theorie gelehrt wird, sei es klar und klassisch ausgedrückt, z. B. die Stelle von den Augen des Einzelnen und den Augen der Partei. Aber wo revolutionäre Praxis gelehrt wird, versage Brecht, weil er die Praxis der Partei nicht kenne.« 13 Gegen dieses Argument, das in der Parteikritik bis heute wiederkehrt, 14 hat Esslin (zumindest teilweise richtig) 15 eingewendet: »Die Behauptung, es existiere in der Parteiarbeit ein Primat der Erfahrung über die Theorie, zerstört die Grundlagen des Marxismus selbst, der ja die Praxis aus der wissenschaftlichen Erkenntnis sozialer Tatbestände ableitet.« 16 Nun ist ohne Zweifel richtig, daß die kommunistischen Parteien unter Stalin weitgehend eine pragmatische, oft sogar opportunistische Politik betrieben, eine »Praxis«, die marxistische Theorie oft nur noch als Vorwand und Alibi benutzte. Besonders verwirrend wird eine solche pragmatische Anwendung marxistischer »Theorie«, wenn Brecht, der die zwar tatsächliche, aber falsche »Praxis« der Partei (in China und Deutschland) verteidigt, am Beispiel Lenin vorgerechnet wird, daß diese Praxis falsch ist, was wiederum dieselbe Partei in der politischen Realität ihrem damaligen Kritiker Trotzki gegenüber keineswegs zugab. In seinem Aufsatz Ein Versuch mit nicht ganz tauglichen Mitteln rechnet Alfred Kurella zum Beispiel Brecht vor: »Wir können verschiedene Beispiele dafür

Vier Analysen zu Bertolt Brechts früher Prosa

2017

Ausschlaggebend für diese Untersuchung war das Seminar "Brechts Erzählungen", geleitet von Dr. Anita Runge im Wintersemester 2014/15. Daraus entwickelte sich das Interesse an der Forschung der in Folge vorgelegten, separat bearbeiteten Analysen der vier Erzählungen "Bargan lässt es sein", "Der Tiger. Ein Brief", "Die Geschichte des Machandelbaums" sowie des Erzählzyklus "Zweifel am Mythos". Sie weisen bemerkenswerte Gemeinsamkeiten auf, die alle vier Prosawerke miteinander verbinden. Es sind inhaltliche, sprachliche und stilistische Ähnlichkeiten hervorzuheben, die im Wesentlichen die in dieser Zeit entstandenen Prosastücke prägen. Einen der zentralen Begriffe, der auf alle in der vorliegenden Arbeit verwendeten Prosatexte passt, bildet diesbezüglich das Schema als ein gedankliches Konzept Bertolt Brechts, das darauf abzielt, Gebrauchsroutinen innerhalb von Literaturtraditionen sichtbar zu machen und ihre Unzulänglichkeiten gegen sich selbst zu wenden (vgl. Bücker 2015: 407f). Einige Erzählungen weisen zusätzlich zum Schema die Verwendung von Prä-und Subtexten auf. Diese intertextuellen Bezüge setzen ein "geistiges Allgemeingut" 3 voraus, das bei der Bestimmung des Genres eine Rolle spielt, die in den Prosastücken in verschiedenen Formen aufzufinden sind. Bereits die Titel der vier Erzählungen deuten auf eine systematische Auseinandersetzung mit bekannten Gattungen wie der Seeräubergeschichte, einem Brief, dem Märchen oder einer Mythos-Erzählung hin. Zugleich zeichnet sich hier ebenfalls ein Spiel mit fest in der Literaturtradition verankerten Leserassoziationen und Lesegewohnheiten ab. Dementsprechend konstruiert Brecht in seiner frühen Prosa ein experimentelles Verfahren, sich literarische Traditionen und Genres gefügig zu machen. Charakteristisch für diesen von Brecht eigens den abenteuerlichen Raubzügen und dem unendlichen Freiheitsdrang, bringt der Rezipient dem Piraten als Außenseiter der Gesellschaft Sympathie entgegen. Anders verhält es sich bei der Erzählung "Bargan lässt es sein" 5 von Bertolt Brecht, die 1919 entstanden ist. Die Vorstellung von Seeräubern, welche in der Geschichte kreiert wird, entspricht nicht der gängigen Erwartungshaltung der Leser, die die vielfach rezipierten Piratenfiguren des Klassikers "Treasure Island" 6 von Robert Louis Stevenson oder der Kindergeschichte "Peter Pan" von James Matthew Barrie aus dem Jahr 1924 verinnerlicht haben (vgl. Cordingly 2001: 9f.). Denn der Erzählung mangelt es an Romantik und an der klaren Zuweisung von Gut und Böse, die es dem Leser sonst ermöglicht, Stellung zu beziehen und zwischen den Figuren differenzieren zu können. In der Brecht-Forschung geht man davon aus, dass sich Brecht in seiner Flibustiergeschichte an typischen Schemata von Seeräuber-und Abenteuergeschichten orientierte und sich von Stevenson, Cooper, und auch Kipling inspiriert fühlte, selbst eine Sammlung von Abenteuergeschichten über den Seeräuberkapitän Bargan und seine Kumpanen zu erstellen, dessen vollständige Realisierung letztendlich ausblieb (vgl.