Chronographie des Todes. Die utopische Zeitlichkeit des Schreibens in Kafkas ›Der Jäger Gracchus‹ [full text] (original) (raw)

2010, Chronographie des Todes. Die utopische Zeitlichkeit des Schreibens in Kafkas ›Der Jäger Gracchus‹

Mit meiner Analyse der Entwürfe zum Jäger Gracchus möchte ich in die Isolation gehen -eine Bewegung, die im ersten Moment nicht unbedingt als eine Provokation erscheinen mag Ein kurzer Blick auf die Handlung genügt, um die Isolation als eines der bestimmenden Momente der Erzählung zu begreifen: Wo befindet sich der Jäger Gracchus, wenn nicht in der Abgeschiedenheit, im Zwischenbereich von Leben und Tod? Es wird dabei nicht verwundern, daß ich im Verlauf meiner Interpretation versuchen möchte, mit dem Begriff ›Isolation‹ auch die immanente Poetologie des Textes und die Thematisierung der Schrift, des Schreibens sowie des Schreibenden herauszuarbeiten -dies ist ein Horizont, der mit anderen Lektüren der Texte Kafkas vereinbar ist Die eigent liche Provokation erfolgt erst dann, wenn ich mit diesem Moment auch meinen methodischen Zugang zum Text charakterisiere Wenn ich mich im folgenden auf wenige, noch dazu voneinander losgelöste Sätze aus den Oktavheften konzentrieren werde, so ist dies eine auch für mich eher ungewohnte Vorgehensweise Besonders im Hinblick auf einen Autor, bei dem die prozessuale Genese des Textes im Vordergrund steht und die semantischen Relationen und schrittweisen Verschiebungen innerhalb des Wortmaterials immer wieder Anlaß für das Schreiben sind und das poetologische Selbstverständnis Kafkas definieren Wenn ich also Sätze aus dem Handlungszusammenhang und ihrem semantischen Kontext isoliere, so geschieht dies nicht nur, weil ich hier keine geschlossene Interpretation des Jäger Gracchus vorlegen kann, die auf einem close reading aller Textpassagen beruht, oder weil ich mich schon vor dem bloßen Gedanken scheue, die hohe Komplexität der Bezüge innerhalb der Erzählfragmente einer einzigen These zu unterwerfen Dementsprechend ist es nicht mein Ziel, anhand exemplarischer Stellen einen ›Subtext‹ der Erzählung zu präsentieren, der im Rücken der Handlung verläuft und über die Interpretation erst gewonnen werden muß Die Isolation ausgewählter Sätze erfolgt vor allem deswegen, weil sie aus dem Text heraustreten und einem ungehinderten Weiterlesen entgegenstehen In ihrer hohen poetischen Verdichtung sind sie Kristallisationspunkte für das