Das antike Griechenland als Geburtsstätte des politischen Denkens und des neuzeitlichen Europa: Ein Narrativ und seine Kritiker (original) (raw)
Nachdem ich etwas erfahren hatte, kam es mir erst so vor, als ob ich gar nichts wisse, und ich hatte recht: denn es fehlte mir der Zusammenhang, und darauf kommt doch eigentlich alles an. J. W. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre Einleitung Vor dem Hintergrund einer von Politikern verschiedener Couleur propagierten Alternativlosigkeit zu Europa und der Forderung nach einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit 1 ist es kaum verwunderlich, dass vermehrt die identitätspolitischen Aspekte Europas diskutiert werden. Für die Konstruktion eines europäischen Selbst-Bewusstseins muss "Europa" de-finiert, also abgegrenzt werden von dem, was nicht "europäisch" ist. Diese Abgrenzung hat wiederum Implikationen für die Stellung Europas in der Welt -dementsprechend kontrovers wird die Debatte um "das Europäische" geführt. Für ein historisches Verständnis Europas plädiert Christian Meier in seinem Buch "Kultur um der Freiheit willen. Griechische Anfänge -Anfang Europas?" 2 . Europas Vorgeschichte, wenn nicht sogar seinen Anfang, finde man bei den Griechen. Ihre spezifische Kultur, so Meier, ist für die Herausbildung von Rationalität und Freiheit -den Maximen, die heute als entscheidend für Europa angesehen werden -ausschlaggebend. Inhaltlich knüpft Meier damit auch an seine These an, dass das Politische bei den Griechen entstand. 3 Diese klassische Interpretation der europäischen Ursprünge und die damit verbundene, exzeptionelle Rolle der Griechen für die europäische Kulturentwicklung wird nicht erst seit Raoul Schrotts Thesen über die Herkunft Homers abgeschwächt oder auch ganz in Frage gestellt. Ob nun Orient oder Okzident die Wiege der europäischen Kultur ist, soll in dieser Arbeit jedoch nicht diskutiert werden. Es geht vielmehr darum, die Kritik an der klassischen Darstellung Meiers einzuordnen und zu analysieren. Dazu unterscheide ich zwei Formen der Kritik. Die erste erklärt sich, so meine Vermutung, einerseits aus einem anthropologischen Verständnis dessen, was "das