Ein Pfeil ins Blaue? Zur Logik sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnose (original) (raw)
Related papers
Zeitdiagnosen: Alle Probleme dieser Welt
Soziologische Revue, 2019
Es beginnt sich in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten verstärkt ein soziologisches Genre der Analyse auszubilden, das zwar nicht dem Grunde nach eine Innovation darstellt, aber durchaus als publizistische Antwort auf gestiegene Problemlagen fortgeschrittener Gesellschaften verstanden werden kann: Zeitdiagnosen oder Gegenwartsanalysen. Natürlich waren auch Max Weber und Georg Simmel mit Aspekten ihrer Arbeiten Zeitdiagnostiker, und wir könnten als Vertreter des Genres fast alle aufzählen: von Tönnies bis Plessner, von Dahrendorf bis Schelsky, von Habermas bis Beck. Dennoch gibt es gemischte Gefühle in der Profession, aus berechtigten und unberechtigten Gründen. Zu den unberechtigten Gründen zählt die Priorisierung konkreter methodischer Verfahrensweisen, die lieber die Frage, was in der Gesellschaft vorgeht, hintanstellen, wenn sich der Befund nicht vermittels harter Zahlen oder bewährter Theorien abarbeiten lässt. Allein schon sprachliche Verständlichkeit löst oft Verdacht aus. Immer wieder wird auch jede Art von Fokussierung oder Zuspitzung als Trivialisierung oder Dif
Eine „tickende geostrategische Zeitbombe“?
PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft
Phosphor ist ein nicht ersetzbarer Nährstoff in Düngemitteln, die essentiell für die Produktion günstiger Nahrungsmittel sind. Der vorliegende Artikel analysiert die Veränderungen in der globalen Phosphatindustrie in einer longue-durée-Perspektive und geht besonders auf Entwicklungen seit den plötzlichen Preisanstiegen 2007 und 2011 ein. Zwar wird seitdem eine langfristig durchaus relevante geologische Erschöpfung des Rohstoffs Phosphatgestein diskutiert (peak phosphorus), derzeit kommt es aber eher zu einer politisch regulierten Verteuerung von Phosphatprodukten für importierende Länder (USA, Europa, Brasilien, Indien). Der Rohstoff liegt stark konzentriert in China und Marokko, die zunehmend eigene Interessen gegen die alten Zentren des Weltsystems (USA, Europa) durchsetzen können.
Zeitdiagnose als kritische Praxis: Siegfried Kracauer 1930
Yearbook for European Jewish Literature Studies, 2017
In einem Text aus dem Jahr 1930, veröffentlicht unter dem Titel "Zertrümmerte Fensterscheiben" in der Frankfurter Zeitung vom 16. Oktober, entwirft Siegfried Kracauer eine Szene der Beobachtung, die von Anfang an einer Unmöglichkeit ausgesetzt ist: "Es ist mir wieder einmal so geschehen wie bei vielen früheren Krawallen: ich bin zu spät gekommen, ich war nicht dabei." (Kracauer 2011a, 348) Das so benannte Verfehlen, gleich im ersten Satz zu Tage getreten, ist die Voraussetzung, die Kracauers Text mitschleppt und mit der er operiert. Der Beobachter als Zeuge der vor seinen Augen stattfindenden Ereignisse ist damit von vorne herein desavouiert: "Immer wenn ein Tumult ist, ist er woanders." (Kracauer 2011a, 348) Mit diesem Eingeständnis des Beobachters eröffnet Kracauer seinen Text, der dadurch zu erkennen gibt, wie Beobachterstandort und beobachtetes Ereignis sich gegeneinander verschoben haben. Der Moment des Sich-Ereignens ist in der Eröffnungssequenz des Textes als einer gesetzt, der aus dem Beobachterblick-immer schon-wieder einmalherausgefallen ist. Doch dies Herausfallen zeugt nicht von einer prinzipiellen Nichtbeobachtbarkeit des Gegenstands. Auch deutet es nicht auf einen blinden Fleck des Beobachterblicks, es hat keine ontologische Tiefe, sondern ist der bloßen Tatsache des Zuspätkommens geschuldet, also strikt temporal. Kracauer konzipiert hier den Berichterstatter als eine Abweichungsfigur von Egon Erwin Kischs rasendem Reporter, oder vielleicht genauer: als eine Unterbietungsfigur, insofern beide, auf je verschiedene Weise, immer der Zeit hinterher sind. Bekanntlich hat Kisch 1925 den Reporter als Zeugen ohne Standpunkt und seine Reportagen als unretuschierte "Zeitaufnahmen" (Kisch 1925, VIII) bezeichnet, wobei er die photographische Metapher und die ihr unterlegte "unbefangene Zeugenschaft" (Kisch 1925, VII) in seine Schrift hineintreibt.1 Bei Kracauer wird der Begriff der Zeitaufnahme reformuliert, gerade durch die Art und Weise, wie er Temporalität in seinem Text von 1930 entwirft. Das führt uns auf die Frage nach den Konzepten von Temporalität und Beobachtung, die im Begriff der "Zeitdiagnose" vorausgesetzt sind, wenn wir ihn mit 1 Dies zeigt sich in den Formulierungen des am 1. Oktober 1924 verfassten Vorworts zu dem Band: "Subjekt und Objekt waren in verschiedensten Lebensaltern und in verschiedensten Stimmungen, als die Bilder entstanden, Stellung und Licht waren höchst ungleich. Trotzdem ist nichts zu retuschieren, da das Album heute vorgelegt wird." (Kisch 1925, VIII)
Zeitdiagnosen: Funktionen und Krisen eines Genres
Hastedt, Heiner (Hrsg.)(2019): Deutungsmacht von Zeitdiagnosen: Interdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld: Transcript, pp. 35-48. , 2019
Zeitdiagnosen sind eine Textgattung der Sozial-und Geisteswissenschaften, die sich durch die Behauptung gegenwärtig sich vollziehender, epochaler sozialer Transformationen auszeichnet. Bereits diese knappe Definition macht deutlich, dass es sich hier um ein äußerst eigentümliches Genre handelt. Denn Epochenbrüche, ob nun sozialer oder anderer Art, haben in der Regel Seltenheitswert. Aus dieser Perspektive ist es zunächst erstaunlich, dass Zeitdiagnosen überhaupt eine Textgattung oder ein Genre bilden. Denn damit ist zunächst markiert, dass es mehrere von ihnen gibt, ja so viele, dass man textuelle und argumentative Strukturähnlichkeiten zwischen ihnen feststellen kann. Tatsächlich existieren, zumindest in der modernen Gesellschaft, gleichzeitig unzählige Deutungsangebote, die die Gegenwart als epochalen Bruch mit bisherigen sozialen Strukturen darstellen. So gut wie alle Sozial-und Geisteswissenschaften produzieren zeitdiagnostische Gegenwartsdeutungen. Mit Werken wie Die post-industrielle
Die Zeitdiagnose Jacob Burckhardts - entschlüsselt
2016
Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print-und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. Die systematische Speicherung von Teilen des elektronischen Angebots auf anderen Servern bedarf ebenfalls des schriftlichen Einverständnisses der Rechteinhaber. Haftungsausschluss Alle Angaben erfolgen ohne Gewähr für Vollständigkeit oder Richtigkeit. Es wird keine Haftung übernommen für Schäden durch die Verwendung von Informationen aus diesem Online-Angebot oder durch das Fehlen von Informationen. Dies gilt auch für Inhalte Dritter, die über dieses Angebot zugänglich sind.
Wer fühlt sich exkludiert? Zur zeitdiagnostischen Verwendung des Konzepts der sozialen Exklusion
KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
ZusammenfassungDer Begriff der sozialen Exklusion hat in den Sozialwissenschaften eine erstaunliche Karriere erfahren. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die empirische Untersuchung der zeitdiagnostischen Verwendung des Konzepts. Aus dieser leiten wir vier Thesen ab, die in diesem Beitrag mit dem Fokus auf das Exklusionsempfinden empirisch geprüft werden: Erstens, dass aufgrund der Prozesse des ökonomischen Strukturwandels größere Bevölkerungsgruppen von sozialer Exklusion in mehreren Dimensionen (Arbeitslosigkeit, Armut, soziale Isolation) betroffen sind, die bei diesen in einem subjektiven Exklusionsempfinden kulminieren. Damit wird unterstellt, dass soziale Exklusion zur Hauptspannungslinie der gegenwärtigen Gesellschaft geworden ist. Zweitens wird angenommen, dass soziale Exklusion nicht eindeutig in klassischen sozialstrukturellen Kategorien zu verorten ist, sondern in breite Teile der Gesellschaft diffundiert ist. Drittens wird sozioökonomischer Prekarisierung und sozialer Isol...
Die Zeitvorstellung junger Kinder und das Zeitverständnis unserer Gesellschaft
https://www.erzieherin.de/die-zeitvorstellung-junger-kinder.html (Das Portal für die Frühpädagogik), 2013
Wie beeinflusst der allgegenwärtige Zeitdruck das Leben und die Zeitvorstellungen junger Kinder? Die beginnende soziale " Bewegung für Langsamkeit " kann auf den Umgang mit Zeit ausgedehnt werden. Wir übernehmen den Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Redaktion von Betrifft Kinder aus dem Beiheft Kinder in Europa, Heft 11/2013.
Böcker, Julia; Dreier, Lena; Eulitz, Melanie; Frank, Anja; Jakob, Maria; Leistner, Alexander (Hrsg.): Zum Verhältnis von Empirie und kultursoziologischer Theoriebildung. Stand und Perspektiven Beltz Juventa Weinheim, 2018
Zeitdiagnostik. Es handelt sich dabei um ein konstitutionstheoretisches und eir.r forschungspraktisches Problem. Einfach gesagt, geht es um die Fragen, was die Zeitdiagnostik analysiert und begrifflich zu bestimmen versucht und wie sie das tun kann. Ihr Gegenstand weist eine charakteristische Eigenschaft auf, die es der akademischen Soziologie nicht leicht macht, ihn angemessen zu konzeptualisieren: die Totalität. Wenn die Frage gestellt wird, in welcher Gesellschaft wir heute eigentlich leber,,2 geht es um diese Gesellschaft als Ganze und nicht um einzelne Teilbereiche, Funktionssysteme oder soziale Felder. Es geht, in klassischer Diktion, un-r ,,die objektive gesellschaftliche Totalität" (Adorno et al. 196911993). Doch nicht nur poststrukturalistische Ansätze haben ,,das Vertrauen in totalisierende Begriffe verloren" (Stfieli 2000, S. 10), sondern die differenz-ierungstheoretisch aufgeklärte und selbst arbeitsteilig organisierte Soziologie ist prinzipiell zurückhaltend geworden im Umgang rnit Totalitätskategorien.3 Allein schon die Frage nach den wesentlichen Eigenschaften ,der Gesellschaft' bringt sie in Verlegenheit und drängt sie im Namen wissenschaftlicher Redlichkeit zu präzisierenden Unterscheidungen. Das mag ihr ein reines Gewissen bewahren, beantwortet aber die Frage nicht. Fataler noch ist die Konsequenz, dass die Soziologie so karnpflos die Aufgabe der Zeitdiagnose den empirisch unverbindlichen Behauptungen massenmedial-geschwätziger Durchblicker überlässt, die sie aufgrund ihres Selbstverständnisses als wissenschaftliche Disziplin zu i Der Artikel verdankt sich vor allem der tatkräftiger-r Mitarbeit von Ddsirde Waibel. Ich danke zudem Nadine Frei sowie den Herausgeberinnen, insbesondere julia Böcker und Lena Dreier, firr ihre nrinutiöse Lektüre und die vielen hilfreichen Kommentare und Korrekturen.