Die "Alkoholfrage" in der Schweiz (original) (raw)

Eine «Alkoholfrage» existiert in der Schweiz erst seit dem 19. Jahrhundert. Sie war das Resultat einer vvechselwirkung zwischen einer einschneidenden Veränderung der Trinkmuster, insbesondere einer starken Zunahme des Branntweinkonsums und einer sich wandelnden gesellschaftlichen Wahrnehmung und Bewertung dieses Phänomens. Die beiden Schnapswellen, welche die Schweiz während der Industrialisierungsphase überrollten, wurden durch die Erschütterung der traditionellen Gesellschaftsstruktur, durch die materielle Verarmung und soziale Entwurzelung weiter Bevölkerungskreise verursacht. Gegen diesen «Elendsalkoholismus» richtete sich eine zuerst bürgerlich dominierte, später auch in der Arbeiterbewegung verankerte Antialkoholbewegung, die auch neuen wissenschaftlichen Konzepten (Sucht, Krankheit) zum Durchbruch verhalf. Ab Mitte der 1880er Jahre unterstützte der Bund diese Bestrebungen durch die Schaffung des Eidgenössischen Alkoholmonopols und des Alkoholzehntels. 1930 wurde der bis heute gültige Alkoholartikel in der Bundesverfassung geschaffen. Der Charakter des Alkoholtrinkens veränderte sich jedoch nach dem Zweiten vveltkrieg stark. Ein steigender materieller Lebensstandard verhalf einem « Wohlstandsalkoholismus» zur Entstehung. Seit der strukturellen Wirtschaftskrise ab Mitte der 1970er Jahre koexistiert dieser mit einer neuen Form von Elendsalkoholismus. EinleUung Vor dem 19. Jahrhundert gab es auf dem Gebiet der heutigen Schweiz keine «Alkoholfrage». Zwar wurden schon früher gegorene Getränke (Wein, Bier, Obstwein) und gebrannte Wasser in beträchtlichem Ausmass getrunken. «Dass im grässten Teil der Schweiz seit waltender Zeit grosse Mengen geistiger Getränke genossen wurden, dass die Schweizer sogar als starke Zecher galten, weiss Jedermann», schrieb der damalige Eidgenössische Fabrikinspektor Fridolin Schul er in einer Enquete über «Die Ernährung der arbeitenden Klassen in der Schweiz» aus dem Jahre 1884 (Schuler 1884: 27). Exzessives Trinken und damit zusammenhängende Pöbeleien provozierten seit dem 16. Jahrhundert,

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