Das Körpergedächtnis (original) (raw)

Über diese Aufführung spricht man wie über ein Ereignis aus einer verschwundenen Welt, von der nur der berühmte Brief Heiner Müllers an Dimiter Gotscheff ("Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet") übrig geblieben ist. Es fehlen Kritiken, Besprechungen, Artikel, und wer weiß, wie viele andere Dokumente von dieser und über diese Inszenierung ebenfalls nicht entdeckt wurden. Übrig geblieben sind einzig Erinnerungen und Erzählungen, ähnlich meiner eigenen -als soeben an der Sofioter Universität "Hl. Kliment von Ochridski" angenommene Studentin der Philologie. Nur über sie verfügt der Forscher. Doch kann er zumindest versuchen, in den von der Inszenierung übrig gebliebenen Spuren die Bedeutung für das Theater dieser Zeit herauszulesen. Deshalb stütze ich mich in diesem Text mehr auf die historische Untersuchung als einzig auf meine eigene Erinnerung. Anders gesagt: im Namen des wissenschaftlichen Anstands vertraue ich meiner Erinnerung nur als noch einem weiteren Zeugnis, das den anderen Spuren gleichgestellt ist, die der denkwürdige "Philoktet" Dimiter Gotscheffs hinterlassen hat. Obwohl vor genau 30 Jahren entstanden (die Premiere war am 17. Dezember 1982), mutet er an wie ein Ereignis von vor 300 Jahren, nicht so sehr wegen der Mythologie, die sich in der Folge um ihn herum anhäufte, sondern vielmehr weil die Epoche des Kommunismus unwiederbringlich verschwunden und vor allem für Historiker und Theoretiker des Theaters und der Kultur von Interesse ist. Es liegt nichts Neues im Verschwinden von kulturellen Welten und Epochen. Ganze Zivilisationen sind verschwunden. Der Fall der kommunistischen Regime jedoch wurde von einem kulturellen und politischen Umschwung begleitet, der die kommunistische Epoche auf den Grund des historischen Gedächtnisses beförderte. Sie ging unter wie Atlantis. Die Entwicklung des globalen Kapitalismus, die politische Krise und Machtlosigkeit sowie der Boom der neuen Technologien an der Wende der beiden Jahrhunderte hat unsere Gesellschaften so verändert, dass das vor gerade einmal zwei Jahrzehnten Geschehene aussieht, als sei es vor Jahrhunderten passiert. Deshalb ist in solchen Zeiten das Gedächtnis, sowohl das kollektive als auch das persönliche, mehr denn je auf die Probe gestellt. Unseren Gesellschaften (im Osten wie im Westen) gelingt es zum Beispiel nur schwer, Universitäten als stabile Orte des Gedächtnisses zu bewahren, in denen traditionell das Wissen über die Vergangenheit gehütet wird. Mit dem Untergang der kommunistischen Ära waren auch bedeutende Autoren davon bedroht, mit auf den Grund des kulturellen und historischen Gedächtnisses gezogen zu werden. Sogar Heiner Müller. Dimiter Gotscheff widersetzt sich nicht einfach nur diesem Prozess des Vergessens. Er kehrt wieder und wieder zu den Texten Müllers zurück, um das Gedächtnis der Gesellschaft in Gang zu setzen, um die persönliche Erfahrung jedes Zuschauers zu provozieren und auf diese Weise unsere Gegenwart einer Prüfung zu unterziehen, um die Fragen nach unserer Zukunft aufzuwerfen. Es kann Zufall sein, dass seine letzte Arbeit -Müllers "Zement" nach dem Roman von Gladkow -im Residenztheater in München stattgefunden hat, wo 1968 "Philoktet" uraufgeführt wurde. Aber es ist sicher kein Zufall, dass er oft zu diesem Stück zurückgekehrt ist. Wie im Jahr 2005 an der Volksbühne, als er selbst den Philoktet spielte, indem er seine eigene Erfahrung aus seinem Leben im Kommunismus als "Material" inszenierte, als Mittel für ein neues Textverständnis. Von seinem ersten "Philoktet" in Sofia an bis zu seiner letzten Müller-Inszenierung in München sind es im Grunde zwei Themen, die sich in seinem Schaffen verbinden: das Thema der Utopie und das Thema des Gedächtnisses, interpretiert durch das Gedächtnis des Körpers. Wie er sagt: "Ich lebe seit mehr als 40 Jahren mit Müller-Texten. Und daher geht es auch nicht in meinen Kopf, dass andere Theatermacher diesen Autor verdrängen. Das betrifft aber nicht nur Müller. Das betrifft viele Autoren, die im sogenannten Sozialismus gelebt und gearbeitet haben. So ist fast eine ganze literarische Epoche in Vergessenheit geraten. Aber es ist nicht mein Problem, wenn andere diese Texte verdrängen. Ich kann sie nicht verdrängen. Ich lebe mit all diesen Autoren, deren Utopien und Texten. (…) Es ist keine große Tragödie, dass der Sozialismus untergegangen ist -viel schlimmer ist, dass das Alte gesiegt hat. Ich bin aufgewachsen mit dieser urchristlichen oder auch urkommunistischen Idee, die Welt neu zu gestalten. Viele sind an dieser Idee kaputtgegangen. Ich versuche, mich ihr schöpferisch zu nähern." 1 Der "Philoktet" von 1982 nimmt somit eine Schlüsselstellung in Dimiter Gotscheffs umfangreichem Schaffen ein, zeigt sich doch hier die Verbindung von Utopie und Körpergedächtnis zum ersten Mal derart konsequent. Eine Bedeutung, die meines Erachtens auch außerhalb des bulgarischen Kontextes zu spüren war und die Inszenierungen dieses Stückes sowohl in den ehemaligen Ostländern wie auch im Westen beeinflusste. Die überraschende Wirkung dieser Aufführung lag damals für mich und meine Kommilitonen in der suggestiven Darstellung der Tragik des menschlichen Daseins begründet. Eine Tragik, ausgedrückt in der Machtlosigkeit jeder einzelnen Figur, sich in der hermetischen Situation von Lemnos zum Handeln zu entschließen. Eine Tragik, die wir Philologen im Goethe´schen Sinn verstehen: als Machtlosigkeit (ähnlich der Hamlets) und als Unlösbarkeit der Konflikte im Stück. Die körperliche Größe von Georgi Miladinov, der den Philoktet spielte, in Kombination mit der Weichheit seiner Stimme verstärkte das Gefühl von hilfloser Wut. Die Tragik jeder der Figuren war jedoch auch deshalb so stark, weil sie vor dem Hintergrund der Utopie überhaupt gezeigt wurde. "Philoktet" nämlich war nicht so sehr aus der Perspektive der kommunistischen Utopie heraus inszeniert, sondern vielmehr aus der universalen Perspektive der Idee einer Weltverbesserung. Gotscheff inszenierte Müllers Stück aus der Perspektive der Moderne heraus, aus der auf die Renaissance folgenden Neuzeit, um die Tragik Philoktets zu zeigen, die sich durch den universalen Konflikt zwischen menschlicher Existenz und der Idee einer gesellschaftlichen Entwicklung ergibt. Eine Idee, die wir für gewöhnlich mit der Tradition des europäischen Rationalismus verbinden. Von diesem Standpunkt aus würde ich heute bereits sagen, dass seine Inszenierung mit dieser sehr eigenen Interpretation des Stücks der westlichen Tradition näher war. Das heißt, näher an dem universalistischen Ansatz, die Parabelhaftigkeit bzw. Allegoriehaftigkeit des Stücks zu deuten, als an der Praxis der 1 "Regisseur Gotscheff will die Welt neu gestalten", Dimiter Gotscheff im Gespräch mit Michael Schleicher über die Inszenierung von Müllers "Zement", in: merkur-online.de, 26.04.2013 http://www.merkuronline.de/aktuelles/kultur/regisseur-gotscheff-will-welt-gestalten-2873016.html Selbstkritik des Sozialismus, die im Theater der DDR und anderen östlichen Ländern vorherrschend war. 2 Gotscheff leitete seine szenische Deutung von der Vieldeutigkeit der Konflikte zwischen Odysseus (Dimitǎr Ganev) und Neoptolemos (Ivajlo Geroskov), Odysseus und Philoktet, Philoktet und Neoptolemos ab. Er drehte die Rollen der Henker und Opfer im Spiel um, wobei er auf diese Weise den außerkünstlerischen Kontext sichtbar machte. Die starke Ästhetisierung des szenischen Milieus machte Gotscheffs Konflikt mit dem realen Sozialismus im Allgemeinen und mit der Realität des späten Kommunismus in Bulgarien im Besonderen überhaupt erst sichtbar. Sowieso schien gerade die Gestalt des Spiels von Gotscheff betont zu sein, nicht nur auf der Ebene des schauspielerischen Spiels, sondern auch in den vertauschten Positionen von Bühne und Saal -das Publikum saß auf der Bühne, und Philoktet kam ganz von hinten aus dem Zuschauerraum. Müller hebt in seinem Brief an Gotscheff die Unzulänglichkeit der Münchner Inszenierung in der Deutung von Odysseus hervor, die die Tragik dieser Figur nicht sichtbar macht, weil sie seine Konfliktbehaftetheit herausschneidet und die Analogien zur Realität des Sozialismus versteckt: "Was nicht funktionierte im Westen, war die Tragödie" 3 . Die Gestalt des Spiels machte damals in der bulgarischen Inszenierung die Öffnung der inneren Konfliktbehaftetheit und Widersprüchlichkeit Odysseus' möglich. Die stattliche Figur von Georgi Miladinovs Philoktet neben dem schmächtigen Odysseus von Dimitǎr Ganev, eingespannt in die ästhetisierten Silhouetten der Bühnenbildnerin Svetlana Zvetkova, lenkten die Aufmerksamkeit des auf die Bühne gesetzten Zuschauers auf den Kontrast, auf den Konflikt zwischen der Massivität des verwundeten, verfaulenden Körpers des nach Lemnos verbannten Philoktet und der von Odysseus' aufgespannten rhetorischen Bogensehne, der durch seine eigene Demagogie selbst in eine Sackgasse geraten ist. Das Fleisch Philoktets, gezeigt in seiner Vergänglichkeit, zeugte vom Widerstand der Körper gegenüber den Ideen. während der achtziger Jahre vergleicht. Meine Untersuchung und meine Hypothese führen zu dem Schluss, dass der Sofioter "Philoktet" grundlegende Erfahrungen Gotscheffs kreuzte, die er im Westen und im Osten angesichts des Konflikts zwischen der universell utopischen Perspektive des modernen menschlichen Daseins und der Beschränktheit der individuellen Erfahrung durch den Widerstand der Körper gesammelt hatte. Dieses Thema hat er auf einzigartige Weise bis hin zu seiner letzten Arbeit immer wieder aufs Neue bearbeitet, wobei er seine szenische Sprache am häufigsten durch die Arbeit mit dem Körper entwickelt, das heißt mit dem Schauspieler. Mit der Standhaftigkeit eines Stoikers und der Beharrlichkeit eines Bulgaren folgt er der Überzeugung, dass sich die Bedeutsamkeit des Theaters in der gegenwärtigen Welt auf das Finden einer Sprache gründet, mit der es in der Lage ist, die Schichten des Gedächtnisses in Bewegung zu versetzen. Er fährt fort, das Theater als einen Ort des...