Die Grenzen der Vernunft. Theologie, Philosophie und gelehrte Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600, Göttingen 2004 (original) (raw)
Domina Ratio: Luther und Erasmus über Freiheit und Vernunft
Jörg Noller 1. Einleitung Thema meines Beitrags ist die Frage, welche Rolle die menschliche Freiheit und Vernunft bei Luther und Erasmus spielen. Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, da in beider Werke theologische und philosophische Fragestellungen aufs Engste verknüpft sind. Dementsprechend gliedert sich mein Beitrag. Ich werde zuerst die Auseinandersetzung beider Denker über die Freiheit des Willens darstellen. Dann wende ich mich Luthers Kritik der Vernunft als einem autonomen Vermögen des Menschen zu. Ich werde dafür argumentieren, dass Luthers Kritik des freien Willens eine Entsprechung in seiner Kritik der absoluten Vernunft hat. Es stellt sich allerdings die Frage, ob überhaupt ein systematisch-philosophischer Gehalt in Luthers Werk enthalten ist. Wie Oswald Bayer treffend bemerkt hat, steht Luther aus philosophischer Perspektive in dem schlechten Ruf, ein Verächter der Vernunft zu sein, die er an manchen Stellen gar als "Hure" (meretrix) 1 diffamiert. Beyer merkt dazu: "Diese Fama ist schuld daran, dass sich seit Jahrzehnten kaum ein Philosoph für ihn interessiertganz im Unterschied zu der großen Aufmerksamkeit, die einem Augustinus, Thomas, Schleiermacher oder Kierkegaard von philosophischer Seite zuteil wird." 2 Ziel meines Beitrags ist es insofern, Luthers Polemik gegenüber der Vernunft als eine Kritik der Vernunft zu rekonstruieren, um diese auf systematische Argumente hin zu untersuchen. Dabei steht vor allem seine Schrift Vom unfreien Willensvermögen (De servo arbitrio) (1525) im Zentrum, welches wie kaum ein anderes im Ruf steht, un-, ja gar anti-philosophisch zu sein. Um Luthers Begriff der Philosophie gegenüber dem der Theologie zu profilieren, wende ich mich abschließend seinen Ausführungen in seiner Disputation Über den Menschen (De homine) (1536) zu. 2. Erasmus und Luther über Willensfreiheit 2.1 Versöhnte Freiheit 1 So etwa 2 Bayer (2003), 146. Der Streit zwischen Luther und Erasmus über die Freiheit des Willens ist auch ein Streit darüber, welche Rolle der Vernunft, und damit der Philosophie allgemein zukommen soll. Es ist aufschlussreich, dass Erasmus Luther selbst in eine Reihe mit Philosophen stellt, wenn es um die Bestimmung des freien Willensvermögens geht. Diese Bestimmung der Willensfreiheit ist ein überaus heikles Unternehmen, welches seinen kritischen Weg zwischen verschiedenen Extrempositionen hindurch navigieren muss. Erasmus schreibt in seiner Schrift De libero arbitrio: "Pelagius scheint dem freien Willen mehr als nötig zuzuschreiben, Scotus schreibt ihm reichlich viel zu. Luther verstümmelte ihn zunächst nur, indem er ihm den rechten Arm abschnitt, und dann nicht einmal damit zufrieden, brachte er den freien Willen um und beseitigte ihn völlig. Ich billige die Meinung jener, die dem freien Willen einiges zuschreiben, aber der Gnade das meiste. Denn weder hätte man die Scylla der Anmaßung so meiden müssen, daß man sich gegen die Charybdis der Verzweiflung oder der Sorglosigkeit treiben ließ, noch hätte man ein verrenktes Glied auf die Weise heilen dürfen, daß man es in die entgegengesetzte Richtung verrenkte, sondern man hätte es an seinen Platz zurückbringen müssen, noch hätte man mit dem Feind vorne so kämpfen dürfen, daß man aus Mangel an Vorsicht von hinten verwundet wurde." 3 Erasmus möchte in seiner Schrift nun einen heiklen Zwischenweg zwischen Pelagianismus auf der einen, und Freiheitsskeptizismus auf der anderen Seite beschreiten. Es geht ihm konkret darum, das Prinzip menschlicher Zurechenbarkeit mit denjenigen zu versöhnen, "die nicht gelten lassen, daß der Mensch etwas Gutes habe, das er nicht Gott verdankte" 4 . Angesichts verschiedener Stellen in der Bibel, die bezüglich der Freiheit des Willens unterschiedliche Interpretationen zulassen, geht es ihm darum, "ein maßvolles Urteil zu suchen" 5 . Erasmus vertritt damit einen Freiheitskompatibilismus, der durch seinen theologischen Kontext von gegenwärtigen kompatibilistischen Ansätzen streng unterschieden ist. Erasmus entwickelt ausgehend vom Faktum der menschlichen Sünde ein Argument, um die Freiheit des Willens zu behaupten. Dieses Argument besitzt die Form einer reductio ad absurdum: Gesetzt den Fall, wir hätten keinen freien Willen, so folgt daraus, dass uns unsere Sünden uns nicht zugerechnet werden können. Unsere Sünden sind aber wirklich. Also muss die These der Unfreiheit des Willens falsch, er mithin frei sein. 6 Durch unsere Sünde ist 3 Erasmus, De libero arbitrio, 189 f. 4 Erasmus, De libero arbitrio, 173. 5 Erasmus, De libero arbitrio, 157. 6 Vgl. Erasmus, De libero arbitrio, 47. 3 unsere Freiheit nicht "ausgelöscht" worden, sondern sie hat nur "zu hinken begonnen". 7 Im Rahmen seines kompatibilistischen Freiheitsprojekts versucht Erasmus den freien Willen nun so zu bestimmen, dass unser "Vertrauen auf unsere Verdienste und die übrigen Nachteile, die Luther vermeidet, und zugleich [...] die Vorteile, die Luther bewundert, nicht verlorengingen." 8 Dazu unterscheidet Erasmus zwischen verschiedenen Phasen und Momenten der freien Willensentscheidung, nämlich "Anfang, Fortschritt und Vollendung" 9 . Während Anfang und Vollendung der freien Handlung allein von der Gnade Gottes abhängen, ist der freie Wille am mittleren Teil des Handlungsprozesses beteiligt, jedoch so, dass er als Zweitursache mit der Erstursache der Gnade interferiert. Erasmus spricht diesbezüglich von einer "Mischung der Ursachen" 10 , die so gestaltet ist, dass die Zweitursache von der Erstursache abhängig ist, ohne selbst wirkungslos zu sein. Er vergleicht dieses Bedingungsgefüge von Wille und Gnade durch das Gleichnis eines Auges: "Das Auge des Menschen sieht, auch wenn es gesund ist, in der Finsternis nichts, und wenn es erblindet ist, nicht einmal im Licht; so vermag der Wille, auch wenn er frei ist, doch nichts, wenn die Gnade sich zurückzieht, und der, der gesunde Augen hat, kann diese doch, auch wenn Licht hereinfällt, schließen, so daß er nicht sieht, er kann auch die Augen abwenden, so daß er aufhört zu sehen, was er hätte sehen können." 11 Die Erstursache der Gnade stellt damit eine Art Rahmenbedingung oder Feld dar, auf dem erst die Zweitursache des freien menschlichen Willens auftreten kann. Trotz dieser Kontextabhängigkeit besitzt der menschliche Wille ein Vermögen, das er in ihm nicht verfügbaren Situationen aktualisieren kann, so dass ihm "ganz wenig" (minimum) eigene, ursächliche Leistung zugeschrieben werden kann. Erasmus wendet sich damit gegen solche Ansichten, die jegliche Ursächlichkeit des Willens bestreiten, es als ein bloß passives "Werkzeug des Heiligen Geistes" verstehen und allein der Gnade Wirkung zusprechen. 12 Die menschliche Vernunft, so erwägt Erasmus, ist durch die Sünde nicht gänzlich "ausgelöscht worden"; vielmehr ist sie nur "verdunkelt" worden. 13 Der freie Wille bedarfum im Gleichnis zu bleibendes Lichts der Gnade, um wieder aufgeklärt, d.h. sehend zu werden. 7 Erasmus, De libero arbitrio, 49. 8 Erasmus, De libero arbitrio, 171. 9 Erasmus, De libero arbitrio, 171. 10 Erasmus, De libero arbitrio, 173. 11 Erasmus, De libero arbitrio, 173. 12 Erasmus, De libero arbitrio, 177. 13 Erasmus, De libero arbitrio, 177. irgend ein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat, sondern die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt" 42 . Die Dialektik der Vernunft und ihr Hang zum Erzeugen von Schein betrifft insofern prinzipiell alle endlichen Erkenntnissubjekte, ebenso wie der Hang zum Bösen alle Freiheitssubjekte betrifft. In der Vorrede der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bemerkt Kant zu diesem allgemeinen Hang der Vernunft weiter: "Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in der Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft." 43 Das Vernünfteln tritt also gerade da auf, wo die allgemeine reine Vernunft mit ihrer Tendenz zur Fragen nach dem Ersten und Letzten mit der der Endlichkeit des Erkenntnissubjekts und seinen transzendentalen Einschränkungen konfligiert, und ihre innere Tendenz zum Unbedingten und Allgemeinen durch eben diese sie kontrastierende Endlichkeit und Individualität scheinhaft kompensiert wird. 4. Zur Rolle der Philosophie bei Luther In seiner Disputatio De Homine von 1536 hat Luther sein Verständnis der Rolle der Vernunft weiter dargelegt. Dort grenzt er die Philosophie explizit von der Theologie ab. Dies geschieht, indem er auf die Stellung des Menschen und seiner Vernunft reflektiert. Die Philosophie verstanden als "die menschliche Weisheit", so Luther gleich in der ersten These, definiere den Menschen als "vernunftbegabtes, sinnenhaftes, körperliches [mit den Tieren zusammengehöriges] Lebewesen (animal rationale, sensitivum, corporeum)" 44 . Doch definiert sie dabei nicht den ganzen Menschen, sondern nur den "sterblichen", nämlich den "dieses [irdischen] Lebens" 45 . Die Philosophie betrachtet nach Luther den Menschen also nur von seiner sterblichen Seite her, und lässt die Möglichkeit und Wirklichkeit seiner Unsterblichkeit außer Acht. Mit dieser auf die Endlichkeit des Menschen befassten philosophischen Perspektive korrespondiert die Rolle der Vernunft. Bezogen auf das irdische Leben ist sie "die Hauptsache" und "das Beste und etwas Göttliches". 46 Dies zeigt sich konkret daran, dass sie "Erfinderin und Lenkerin aller [freien] Künste, der Medizin, der Rechtswissenschaft und alles dessen, was in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüchtigkeit 42 KrV, B 54. 43 KrV, A 7. ganzen und vollständigen Menschen" zu definieren. Der Mensch ist theologisch als "Gottes Geschöpf" bestimmt, und er ist durch eine christologisch-eschatologische Geschichtlichkeit charakterisiert, die seine prä-und postlapsarische Existenz reflektiert. Diese Geschichtlichkeit des Menschen vermag nach Luther die Vernunft nicht zu begreifen. Mehr...
(Hg.).-Halle an der Saale : Universitätsverlag Halle-Wittenberg, 2020.-445 S. ; 23 cm.-(Wissensdiskurse im 17. und 18. Jahrhundert ; 7).-ISBN 978-3-86977-218-9 : EUR 58.00 [#7169] Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) 1 gehört nicht gerade zu den zen-tralen Figuren des Kanons der deutschen Literatur-man kennt zwar einige seiner Werke und behandelt sie im Rahmen der Germanistik, aber sonst? 2 Gleichwohl wird man auch dann, wenn man trotz der Fabeln und des reiz-vollen Romans nicht daran glaubt, daß Gellert noch eine breitere Resonanz finden kann, die große kulturgeschichtliche Bedeutung des Autors in einer Periode des Umbruchs anerkennen müssen. So kommt der umfangreiche Sammelband aus der Reihe Wissensdiskurse im 17. und 18. Jahrhundert 3 recht, der aus Anlaß des 250. Todestags von 1 Das Glück ist eine Allegorie : Christian Fürchtegott Gellert und die europäische Aufklärung / Sikander Singh.-München ; Paderborn : Fink, 2012.-263 S. ; 24 cm.-Zugl.: Düsseldorf, Univ., Habil.-Schr.-ISBN 978-3-7705-5358-7 : EUR 34.90 [#2816].-Rez.: IFB 13-2 http://ifb.bsz-bw.de/bsz35913498Xrez-1.pdf-Siehe auch Christian Fürchtegott Gellert / Sikander Singh.-1. Aufl.-Hannover : Wehrhahn, 2010.-121 S. : Ill. ; 21 cm.-(Meteore ; 6).-ISBN 978-3-86525-171-8 : EUR 14.80.-Inhaltsverzeichnis: https://d-nb.info/1005452989/04 2 Vgl. Vom Lieblingsautor zum Außenseiter : ein Beitrag zur Kanondebatte des 18. Jahrhunderts / Uwe Hentschel.-Frankfurt am Main [u.a.] : PL Academic Research , 2015.-314 S. ; 21 cm.-ISBN 978-3-631-65782-9 : EUR 59.95 [#4019].-Rez.: IFB 15-1 http://ifb.bsz-bw.de/bsz425994031rez-1.pdf 3 Einige frühere Bände wurden besprochen: Materialitätsdiskurse der Aufklä-rung : Bücher-Dinge-Praxen / Thomas Bremer (Hrsg.).-Halle an der Saale : Universitätsverlag Halle-Wittenberg, 2016.-267 S. : Ill. ; 23 cm.-(Wissensdiskur-se im 17. und 18.
Studia mediaevalia Bohemica 1 (2009), S. 231-257
Die Handschrift A aus der ehemaligen Bibliothek des Kartäuserklosters Salvatorberg bei Erfurt (heute Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Ms. lat. quart. ) ist in der Forschung nicht ganz unbekannt. Für die Hussitenforscher bestand ihre Bedeutung bisher vor allem darin, dass sie die einzige erhaltene Abschrift des Prager Manifestes vom . Februar enthält. Aus diesem Kodex wurde das Manifest denn auch zweimal herausgegeben. Den Kodikologen ist die Handschrift dank ihrer Erwähnung im mittelalterlichen Bücherverzeichnis der Erfurter Kartäuser bekannt. Das Fehlen einer modernen Beschreibung sowie die falschen Signaturangaben in den Editionen des Hussitenmanifestes haben es jedoch verursacht, dass dem Kodex weder seitens der Bibliotheksgeschichte noch seitens der Hussitologie eingehende Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Dennoch kann die Quelle über ihren Inhalt hinaus ein wertvolles historisches Zeugnis ablegen. Anhand der Eigentums-und anderer Vermerke ist es einigermaßen möglich, das Schicksal der einzelnen Abschriften sowie die Entstehungsgeschichte des Kodex näher zu betrachten. Vorwegnehmend kann da festgestellt werden, dass die Handschrift Spuren eines europaweiten Erwerbs und absichtlicher Ansammlung von antihussitischem Schrifttum trägt. Somit leistet die nachstehende Untersuchung einen Beitrag zur Erforschung intellektueller Kommunikationsnetzwerke in der Zeit zwischen den lánky a studie Studia Mediaevalia Bohemica 1 2009