Fallbeispiel Guatemala: der aktuelle Extraktivismus im Kontext vielfältiger Formen des Widerstands (original) (raw)

Der neue progressive Extraktivismus in Südamerika

Während Europa und ein großer Teil der Welt sich in einer schweren Wirtschaft s-und Finanzkrise befi nden, erlebt Südamerika eine Zeit des Wohlstands, mit hohen Wachstumsraten, Verringerung der Armut und niedriger Arbeitslosigkeit. Und während sich weltweit viele linke Parteien auf dem Rückzug befi nden, werden die Staaten Südamerikas zudem mehrheitlich von sogenannten progressiven Regierungen, oder der "Neuen Linken", regiert.

Extraktivismus, linke Regierungspolitiken und ökoterritoriale Bewegungen in Lateinamerika

Das Argument, 2021

Um die Jahrtausendwende kamen in vielen Ländern Lateinamerikas linke Regierungen mit Hilfe sozialer Bewegungen an die Macht. Sie verfolgten eine durch Höchstpreise auf dem Weltmarkt angetriebene Politik der Rohstoffausbeutung, welche die Basis für soziale Umverteilung bildete. Dieser sog. progressive Zyklus wurde teils von rechten, neoliberalen Regierungen abgelöst. Unabhängig von der jeweiligen Regierung entstand in den letzten Jahrzehnten eine Debatte um Rohstoffausbeutung und gesellschaftspolitische Projekte, die sich inmitten zunehmender sozial-ökologischer Konflikte, solidarischem Widerstand und komplexer politischer Konjunkturen bewegt. Der Aufgabe einer differenzierten Analyse regionaler Tendenzen stellt sich die argentinische Soziologin Maristella Svampa 1 , die sich in der kritischen Lateinamerikaforschung und Gesellschaftstheorie verortet. Sie bringt kollektives Handeln, Gender, Ethnizität, sozio-ökologische Konflikte, wirtschaftliche Strukturen und politische Systeme zusammen und liefert eine Analyse, die das kollektive Gedächtnis und fortbestehende koloniale Strukturen miteinbezieht. Ihre Arbeit entstand auf der Basis kollektiven Austausches zwischen Wissenschaft und Aktivismus, die gemeinsam nach regionalen Alternativen suchen. In einem essayistischen Schreibstil analysiert die Autorin in beiden Werken aktuelle Entwicklungen entlang der folgenden drei Achsen: 1. Eine Charakterisierung der Zyklen und Konjunkturen der Akkumulationsmodelle, die mit der regionalen Entwicklung verbunden sind. 2. Die Verknüpfung von Wirtschaftszyklen mit den Eigenschaften verschiedener politischer Regime in der Region, insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten. 3. Eine Analyse der Ausprägungen, Tendenzen, Allianzen, Möglichkeiten und Grenzen des kollektiven Handelns in der Region. Während Epochenwechsel das Ziel hat, »die real existierenden lateinamerikanischen Progressivismen aus einer kritischen Perspektive zu untersuchen [...] [und] die Zusammenhänge zwischen Akkumulations-und Extraktivismusmodellen, sozialen Kämpfen und politischen Regimes aufzudecken« (B, 282), ist Svampas

Extraktivismus und das Gute Leben. Buen Vivir/Vivir Bien und der Umgang des Rechts mit nichterneuerbaren Ressourcen in Ecuador und Bolivien

Kritische Justiz, 2019

Der Ressourcenreichtum Lateinamerikas war eine wesentliche Triebfeder für die Eroberung und Kolonisierung der Region durch die Weltmächte. 1 Neokoloniale Macht-und Abhängigkeitsverhältnisse sind gerade im Bergbausektor noch heute allgegenwärtig. 2 Die Verfassungen Ecuadors (Constitución de la República del Ecuador von 2008, im Folgenden VerfEC) und Boliviens (Constitución Política del Estado von 2009, im Folgenden VerfBO) haben sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt, den Staat in allen Aspekten zu dekolonialisieren und bestehende Abhängigkeiten zu überwinden. 3 Sie stellen die bislang jüngsten und innovativsten Verfassungen Lateinamerikas dar und sind dem sogenannten "nuevo constitucionalismo" zuzuordnen, eine Verfassungsentwicklung, die sich durch die Garantie kollektiver, sozialer und indigener Rechte, weitreichende Rechtsschutz-und Partizipationsmöglichkeiten und die Bedeutung, die sie Umweltthemen zukommen lässt, auszeichnet. 4 Dieser Beitrag möchte das Transformationspotential der neuen Rechtstexte anhand ihres Umgangs mit nichterneuerbaren Ressourcenkonkret (Edel-)Metallen, Erdöl und Erdgasuntersuchen. Nach einem Überblick über den Hintergrund (I.) werden die Implikationen des neuen Verfassungsprinzips des buen vivir/vivir bien (II.) und die konkreten Vorgaben der Verfassungen (III.) betrachtet, bevor exemplarisch anhand der Bergbaugesetze der beiden Ländern die einfachgesetzliche Umsetzung in den Blick genommen (IV.) und ein Fazit gezogen (V.) wird. I. Hintergrund: (Neo-)Extraktivismus und soziale Konflikte Beide Länder sind wirtschaftlich in hohem Maße vom Export von Primärgütern abhängig. 5 Neben dem Abbau von Edelmetallen gewann in den letzten Dekaden vor allem die Förderung von Erdöl und-gas an Bedeutung. Als in Ecuador gegen Ende der 1970er-Jahre die Erdölförderung zu forcieren begann, wurden dort lediglich 3% der Gesamtfördermenge der Region produziert. 6 1

In den Tentakeln der Macht. Vergangenheitspolitik im Prozess der Demokratisierung Guatemalas (1990-2007). Berlin 2010.

Fotos auf der Umschlagseite: Daniel Hernández (© Swisspeace) Über den Autor: Dirk Bornschein ist in Politikwissenschaft und Journalismus ausgebildet. Wenige Jahre nach seiner Ausbildung ging er für 13 Jahre nach Lateinamerika, wo er in Mexiko und Guatemala als Korrespondent und dann in Guatemala als Referent einer deutschen politischen Stiftung arbeitete. Nach Tätigkeiten in politischer Bildung und Moderation, Beratung in politischer Kommunikation und politischen Analysen kehrte er mit einem selbst entwickelten Forschungsprojekt wieder in die Politikwissenschaft zurück. Kontakt: bornscheindirk@yahoo.de i Meinem Vater, ein Kind seiner Zeit, ... mit der er unterging.