"Zur Dialektik der musikalischen Hypnose: Adornos “Versuch über Wagner”, 75 Jahre später" (original) (raw)

Lässt sich Wagners Werk noch hörend »erfahren« -oder ist seine Rezeption von einer Vielzahl oft konkurrierender Interpretationen und skandalträchtiger Regiekonzepte schlechthin überdeterminiert: Wagner der Schauspieler; der Décadent; der Urheber der musikalischen Moderne und des Musikdramas; Antisemit; Erotomane; Tiefenpsychologe; granatenschleppender Revoluzzer; vom bayrischen Monarchen finanzierter ästhetischer Großunternehmer; ideologischer Wegbereiter des Faschismus; oder, nach dem Zweiten Weltkrieg (aus amerikanischer Sicht), die Cartoon-oder Pop Figur des kleinwüchsigen Deutschen mit der komischen Mütze, dessen Walkürenritt Szenen in Coppolas Apocalypse Now oder etwa Walt Disneys Bugs Bunny musikalisch untermalt. Dem heutigen Betrachter von Wagners schillerndem Nachleben drängt sich Napoleons bonmot vom kurzen Schritt du sublime au ridicule immer wieder auf. Wie schon bei der Premiere des Liebesverbots ein unverhofft erheitertes Publikum erfuhr, so lassen sich grobschlächtige Gestik und moderne Tiefenpsychologie, cinematisches Spektakel und metaphysisches Pathos bei Wagner nur schwer voneinander trennen. Man denke an jene (der Mannheimer Klassik entlehnte) dynamische Steigerungen, welche für die Chorszenen des Tannhäuser, Lohengrin, und der Meistersingern formgebend sind. Vollständig choreografiert und durchkomponiert, markiert Wagners singendes »Volk« hier den Übergang von jener, bereits suspekten »Spontanität« jakobinischer Volksversammlungen um 1791 zur vollständig koordinierten Massenkundgebung in Nürnberg zirka 150 Jahre später. Gerade in Wagners Frühwerk sehen wir uns mit einer oft plumpen (Hollywoods heutige Filmmusik antizipierenden) Dramaturgie des Klanges konfrontiert, wie etwa jene immergleichen Fanfarenklänge im Rienzi, in der Holländer Ouvertüre, zum Einzug der Gäste im zweiten Akt des Tannhäuser, oder etwa im Vorspiel zum dritten Akt des Lohengrin. Auch im Ring (z. B. in Siegfrieds Schmiedelied) dominiert über weite Strecken ein plakatives, an Reklamemusik erinnerndes Idiom, wie etwa in der mechanisch-leitmotivischen Typisierung von Handlungsträgern (Hunding, Loge, Alberich, Beckmesser, Mime, Kundry). In der ästhetischen Reduktion des Individuums auf die bloße Spezies verflacht denn auch schuldfähiges Handeln zu einem bloß naturalistischem »Drang« oder Schopenhauerschen »Willen«. Man denke an den von Thomas Mann so passend als »Totschlagehelden« apostrophierten Siegfried, dessen innere Leere die ihm zugeordenete, ungestüme Blechbläserfanfare genauso erhellt wie die desorientierenden leeren Quinten des Tarnhelm Motivs. Überhaupt scheint es oft, als seien Wagners