Sangatte: Umkämpfte Grenzen (original) (raw)
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2016
Mit Beitragen von: Mischa Leinkauf, Hans Ulrich Reck, Konstantin Butz, Daniel Burkhardt, Hanns-Josef Ortheil, Dirk Specht, Christina Moser, Karin Lingnau, Elisa Balmaceda
Versuche der Grenzüberschreitung
Mensch - Tier - Maschine
In der aktuellen Diskussion wird das Verhältnis von Mensch und Tier zunehmend als ein graduelles bestimmt. Tieren werden, gerade auch im Licht neuer verhaltensbiologischer Forschung, immer öfter Merkmale wie Kultur, Sprache und die Fähigkeit, die mentalen und emotionale Zustände anderer zu verstehen, zugesprochen. Viele Tiere besitzen solche Fähigkeiten mindestens teilweise (vgl. Monsó/Benz-Schwarzberg/Bremhorst 2018; Benz-Schwarzburg 2012). Vor diesem Hintergrund steht deshalb hier nicht die Bestimmung von Grenzen und die Abgrenzung des Humanen und des Tierlichen im Fokus, sondern das, was man-in konkreten Interaktionskontexten-als verbal explizierte Versuche und Praktiken der interspezifischen ›Grenzüberschreitung‹ seitens der beteiligten Menschen verstehen kann. Es geht also nicht um eine Perspektive, die davon ausgeht, dass menschliche und tierliche Lebewesen grundsätzlich nur in ihren eigenen, füreinander vollständig opaken Welten leben, denn es zeigt sich immer wieder, dass interspezifische Interaktion und komplexe Kooperation prinzipiell-trotz unterschiedlicher artspezifischer Kommunikationsressourcen-nachweislich und beobachtbar möglich sind. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Mensch-Pferd-und Mensch-Hund-Interaktionen, denn Pferde, Hunde und Menschen befinden sich schon seit Jahrtausenden in einer Lebensgemeinschaft und haben Interaktionspraktiken herausgebildet, die es z.B. ermöglichen, dass Pferd und Mensch sich gemeinsam beim Reiten fortbewegen und dabei komplexe Bewegungsmuster ausführen und dass Hunde zusammen mit ›ihren‹ Menschen anspruchsvolle Aufgaben etwa als Rettungs-oder Therapiehund bewältigen oder als sogenannter Begleithund eng mit dem Menschen zusammenleben. Empathie spielt dabei, wie im Folgenden gezeigt werden soll, eine zentrale Rolle und erweist sich als »Brückenpraktik« (Steen 2020) in der Artgrenzen überschreitenden Interaktion und Kommunikation. Empathie wird hierbei-im Sinne des aktuellen wissenschaftlichen Empathiediskurses-nicht als ein einfaches Mit
Unendliche Weiten...? Umkämpfte Grenzen im Internet
INDES - Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 1: 4, 61-67., 2012
Governments of the Industrial World, you weary giants of flesh and steel, I come from Cyberspace, the new home of Mind. On behalf of the future, I ask you of the past to leave us alone. You are not welcome among us. You have no sovereignty where we gather.« 1 Diese Auftaktzeilen der 1996 verfassten »Declaration of the Independence of Cyberspace« stehen sinnbildlich für ein Verständnis, das noch heute die populären Erzählungen vom Internet dominiert: Die Ubiquität, Globalität und Aktualität des Netzes und die unendliche Leichtigkeit der Vernetzung im Web 2.0 werden so gedeutet, dass Staaten und ihre Grenzen im Internet völlig bedeutungslos geworden sind. Das je nach Standpunkt daraus folgende utopische oder dystopische Raunen, dass niemand das Internet kontrollieren könne, ist ein Topos von großer Kraft. Dass das Internet grenzenlos und seine Entwicklung nicht zu steuern sei, ist dennoch nicht ganz richtig. Natürlich wird das Internet reguliertund zwar immer und überall. Durch private Firmen, technische Standards, 1 John Perry Barlow, A Declaration of the Independence of Cyberspace, online einsehbar unter https://projects.eff.org/\~barlow/ Declaration-Final.html [eingesehen am 27. 07. 2012]. ÜBER GRENZEN -ANAlysE Programmcodes etc. Und natürlich gelten auch im virtuellen Raum Gesetze nationaler Art. Staaten mögen verspätet auf die Entwicklung reagiert haben; ihre Versuche zu begrenzen, zu regulieren und zu kontrollieren, sind aber überall sichtbar. Dies erklärt sich schon dadurch, dass das, was auf dem Spiel steht, weit mehr ist als nur die Möglichkeit zu digitalem Preisvergleich und zur Pflege digitaler Netzwerke. Der reale Raum wird zunehmend durch virtuelle Kommunikation überschattet, Kommunikationsweisen und in deren Folge Interessenlagen werden grundlegend transformiert -die Musikindustrie kann ein Liedchen davon singen. Es erklärt sich daher von selbst, dass die Cyberutopie von einer sich den materiellen Zwängen entziehenden, grenzenlosen Interaktion auf Schranken stößt. Denn es sind nicht nur wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die sich verschoben haben, sondern auch die Staaten selbst sind direkt von der grenzenauflösenden Kraft des Internets betroffen. Und für sie liegt der Einsatz ungleich höher, da sich für sie, im Gegensatz zu Unternehmen, die Risiken und Chancen des Netzes nicht die Waage halten. Das Internet stellt nichts Geringeres als das Grundprinzip von Staatlichkeit in Frage: den Staat als einheitlich verfassten und kontrollierten Raum, als souveräne Entität. Gerade in den Kernbereichen von Souveränität bewirkt die zunehmende Digitalisierung epochale Veränderungen, z. B. bei der Gewährleistung kollektiver Sicherheit oder bei der Durchsetzung der Eigentumsordnung. Der Versuch der Re-Etablierung von Grenzen im Netz ist daher wenig überraschend. Doch wie kann eine solche Grenzziehung überhaupt angegangen werden, wenn der Raum, in dem sich das Internet erstreckt, ein virtueller ist, theoretisch unendlich weit und beliebig formbar? Grenzen im realen Raum sind weit einfacher zu konkretisieren als im virtuellen Feld, wo das, was man abzutrennen versucht, die ätherische Qualität digitaler Kommunikation hat. Jede Grenze -die physisch-territoriale wie die virtuelle -basiert auf den Faktoren Kontrolle und Beachtung. Kontrolle bedeutet die Fähigkeit, den sich an der Grenze ergebenden Verkehr zu überwachen, ihn zu regulieren und gegebenenfalls zu sanktionieren. Hierfür ist technische Superiorität zentral: An der Grenze muss man identifizieren und selektieren können. Im Grenzraum selbst muss Eindeutigkeit hergestellt werden, damit er administrierbar wird. Es ist jedoch nicht nur die Möglichkeit von Kontrolle, die eine Grenze funktionieren lässt. Ebenso bedarf es der Beachtung, der Anerkennung ihrer Legitimität. Zumindest von denen, die durch sie eingegrenzt werden, muss eine Grenze als berechtigt, gut und notwendig empfunden werden. Sie müssen für deren Verteidigung eintreten und die Grenze bestenfalls als natürlich empfinden. Wird die Grenze weder von
2019
deutschen Juristinnen. Eine Geschichte ihrer Professionalisierung und Emanzipation (1900-1945), Köln/Weimar/Wien 201 o. \ "' '-.~ ' Gedachte Grenzen Ehescheidungsrechtsforderungen als Grenze innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung, 1918-1933
Helene Breitenfellner, Eberhard Crailsheim, Josef Köstelbauer, Eugen Pfister, “Einleitung” in: Helene Breitenfellner, Eberhard Crailsheim, Josef Köstelbauer, Eugen Pfister (eds.), Grenzen – Kulturhistorische Annäherungen (Vienna, Mandelbaum 2016), pp. 7-16.
2019
Amazonenmythos und Französische Revolution Die Anstößigkeit dieser Grenzüberschreitung wird erst deutlich, wenn man den historischen Kontext des Amazonenmotivs berücksichtigt. Anstößig war die Penthesilea schon deswegen, weil sie jenen Mythos als Referenzpunkt nahm, der den Zeitgenossen in höchstem Maße verdächtig erschien: Der Amazonenmythos war in der Französischen Revolution zum neuen Symbol für die Freiheitsbewegung der Frauen geworden. Selbst in Gender-Theorien ist bisher wenig darauf hingewiesen worden, dass die Französische Revolution nicht nur ein Höhepunkt der bürgerlichen, sondern auch der weiblichen Emanzipationsbestrebungen war. 4 Die revolutionären Frauen wurden, in Anlehnung an den antiken Mythos, als "Amazonen" bezeichnet; es gab "Amazonenlegionen" und einen "Club der revolutionären Republikanerinnen", in dem nur Frauen als Mitglieder aufgenommen wurden. Eine Erklärung der Rechte der Bürgerinnen wurde von den Prostituierten vom Palais Royal verfasst, in der sie die Gleichstellung von Männern und Frauen forderten. 5 Unzählige feministische Broschüren wurden geschrieben, und in den zahlreichen Festumzügen der Revolutionszeit bildete die Amazone oft den Mittelpunkt des Festgeschehens. In den Revolutionsfesten trat die Amazone als zentrale Gestalt neben die der Mutter und verkörperte revolutionäre Tugenden. 1791 verfasste Olympe de Gouges eine "Erklärung der Rechte der Frau", die ein provozierendes Gegenstück zur "Erklärung der Menschenrechte" darstellte. Darin heißt es: "Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Manne ebenbürtig in allen Rechten." 6 Kein Wunder, dass Olympe de Gouges wenig später auf dem Schafott landete. Mit dem Freiheitskampf der revolutionären Frauen formierte sich auch der Gegenkampf der Männer, die bemüht waren, das bedrohte patriarchalische System neu zu etablieren. In diesem Kontext ist die Bemühung zu verstehen, die Frau ganz ins Private abzudrängen und vom Erwerbsleben fern zu halten. Die Dichotomie der Geschlechter entsteht neu im 18. Jahrhundert; sie schreibt den Unterschied von Mann und Frau fest und löst das alte Eingeschlechtermodell ab. Kein geringerer als Schiller warnt vor den Gefahren der Frauen-Emanzipation im Gefolge der Französischen Revolution: "Freiheit und Gleichheit! hört man schallen, Der ruhige Bürger greift zur Wehr, Die Straßen füllen sich, die Hallen, Und Würgerbanden ziehn umher, Da werden Weiber zu Hyänen Und treiben mit Entsetzen Scherz, Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen, Zerreißen sie des Feindes Herz." 7
Angelangt an die Grenzen der Integration?
In den bald 70 Jahren der europäischen Integrationsgeschichte lassen sich zwei verschiedene und doch unter sich verbundene Entwicklungen unterscheiden: die Vertiefung und die Erweiterung. Mit Vertiefung ist bekanntlich Zunahme der supranationalen Kompetenzen und der Regelungsdichte gemeint, mit Erweiterung die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten. Als verschränkt muss man sich die beiden Entwicklungen darum vorstellen, weil Erweiterung eine Beeinträchtigung der Vertiefung bedeuten kann oder umgekehrt Vertiefung gerade darum nötig ist, weil sich die Integrationsgemeinschaft ausdehnt. Beide Entwicklungen bleiben in der europäischen Öffentlichkeit nicht undiskutiert: Wie viel Vertiefung braucht es? Kann es auch zu viel Vertiefung geben? Und wie viel Erweiterung ist gut für die Gemeinschaft? Kann es in der Erweiterung einen zu grossen Radius geben (eine overextension wie im früheren britischen Empire)? Während diese Fragen bisher vor allem im Hinblick auf die weiteren Entwicklungen diskutiert wurden, wird jetzt neuerdings gefragt, ob nicht in beiderlei Hinsicht (Vertiefung und Erweiterung) die Entwicklungen bereits zu weit fort geschritten sind und ein Marschhalt eingeschaltet oder gar der Rückwärtsgang eingelegt werden muss. Ein genereller Marschhalt im Integrationsprozess ist weder möglich noch nötig. Grundsätzlich nicht möglich, wenn die von Alexander Graf Lambsdorff, einem der Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, in Erinnerung gerufene und verschiedenen Politologenvätern zugeschriebene Fahrradtheorie stimmt: »Europa muss vorwärts fahren oder es wird umfallen. Der europäische Einigungsprozess muss dynamisch bleiben oder er wird scheitern.« 1 Im Kerneuropa-Papier von 1994, das 1