Der Ort der Literatur (original) (raw)

Während des gesamten 19. Jahrhunderts und bis zur Gründung des Staates Israel in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die moderne jüdische Literatur weitestgehend von europäischen, arabischen und amerikanischen Juden unter anderem in Odessa, Warschau, New York, Paris, Kairo und Jerusalem hervorgebracht und gelesen. Obgleich diese Literatur zum Großteil in den jüdischen Nationalsprachen (Jiddisch, Hebräisch, Ladino, Judäo-Arabisch) verfasst wurde, waren ihre Produktions-und Verbreitungsstrategien grundsätzlich transnationaler Natur. Zwar bildeten ihre Autoren und Leser eine «imaginierte» nationale Gemeinschaft (die freilich in unterschiedliche, zuweilen einander gar feindselige Gruppen gespalten war), jedoch erstreckten sich die dargestellten literarischen Themen und Lebenswelten über nationale Grenzen hinweg. Die moderne jüdische Literatur ist ein revolutionäres Phänomen, das nicht allein auf kulturelle Zentren oder literarische Kreise zu beschränken istliegt doch das Eigene dieser Literatur gerade in den Verwerfungen, Umgehungen und Erweiterungen der literarischen Landkarte. Das Gefühl der Desorientierung, von dem diese Literatur durchdrungen ist, macht gerade ihre Modernität aus. Die von ihr vollzogene kulturelle Revolution besteht darin, gegebene Ordnungen zu sprengen, aus dem Zentrum hinauszugehen und die Landkarte zu erweitern. All dies durch die Wiederbelebung der sakralen hebräischen Sprache, durch die Zitierung sakraler Quellen innerhalb eines säkularen Kontextes, durch moderne Deutungen des jüdischen Schriftguts, dessen Veränderung und die Hinzufügung nichtjüdischer, ins Hebräische, Jiddische oder Ladino übersetzter Werke sowie schließlich durch die Verwandlung des jüdisch-orthodoxen Gelehrten in einen modernen Leser. Im Folgenden beschränke ich mich dennoch zunächst auf einen räumlich und zeitlich eng definierten Ort, die Stadt Paris in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Dabei gehe ich allerdings von der These aus, dass die dort angesiedelte und als randständig wahrgenommene Erscheinung der modernen jüdischen Literatur über den Ort Paris hinausgeht. Veranschaulicht wird dies durch Leben und Werk zweier führender Gestalten des jüdisch-literarischen Kreises in Paris: den im Russischen Reich auf dem Gebiet des heutigen Belarus geborenen Wissen